Ein Sabbatjahr

 Stand: 20. November 2012 - ENDE

An meine treuen Fans: Hallo ihr beiden!

Es gehört zur Menschwerdung des trendbewussten Zeitgenossen, erstens eine Weltreise zu machen und zweitens die Webgemeinde mit einem zeitgleich verfassten Weltreiseblog zu überraschen. Optimaler Zeitpunkt für diese Weltreise ist wegen der maximalen Begeisterungsfähigkeit, der geringeren Anfälligkeit für übertragbare Krankheiten und der verschwindenden moralischen Zwangslage, das ganze selbst finanzieren zu müssen, natürlich die Zeit nach dem bestandenen Abitur. Die Schilderungen des just aus der höheren Lehranstalt entlassenen Bürgersprösslings wie er mit dem Rucksack durch das Individualistenziel Bangkok spazierte und exotischen indianischen Stämmen neue Formen der Liebe beibrachte, zeugen von ein so anrührenden Mischung aus Weltläufigkeit und Naivität, dass auch der zynischste Leser sich den – verdienten – fiesen Kommentar verkneift und statt dessen sanft errötend dem globalisierenden Erwachsenwerden aus den Augenwinkeln zusieht.

Ich will gleich gestehen, dass der beschriebene Zeitpunkt in meinem Fall seit langen verstrichen ist. Dennoch träumte auch ich von der Reise um den Erdball und war auch schon in die Planung eingetreten, als ein neuer Job mit der Penetranz des Horst Köhler („Vorfahrt für Arbeit“!) in den Vordergrund drängte und meine Planungen weit hinter die Einführung des Bürgergeldes zurückwarf. Das Beste aus der neuen Situation suchend, kam ich auf die folgende - doch so nahe liegende – Idee: Weltreise und Weltreiseblog müssen nicht zwangsläufig parallel erfolgen. Selbstverständlich kann die Reise dem Blog vorgelagert sein. Und wenn man ohnehin nicht die Absicht hat, seinen Weltreiseblog mit unnötigem Wahrhaftigkeitsbezug zu belasten, kann der Weltreiseblog auch VOR der Weltreise geschrieben werden. Das habe ich vor.

Hier ist der Plot: Mein Mann, eine Dame mit Namen Oma Kasulke, der Werwolf Sandro, die Rucksacktouristen Rick und Jamie sowie ich selbst haben im Preisausschreiben der Auto-Bild eine Weltreise über ein Jahr gewonnen. Die Ziele können die Teilnehmer selbst bestimmen. Nicht in allen Episoden werden alle Charaktere eine wichtige Rolle spielen, was unter anderem daran liegt, dass Sando eine Spielernatur ist und manchmal tagelang nicht das örtliche Casino verlässt und Oma Kasulke eine geschwätzige Einzelgängerin ist, die manchmal gern Zeit für sich allein in Anspruch nimmt. Das erste Ziel der Reise ist auf Jamies Wunsch der einzige Ort der Welt, an dem noch nie ein Tourist gewesen ist. Sie hat natürlich gehofft, dass dies ein winziger Weiler irgendwo in Sibirien sei, aber Recherchen des Chefredakteurs des Lonely Planet haben ergeben, dass dieser Ort Barbitz heißt und in Südbrandenburg liegt.

Da wegen des hohen Ikonizitätsgrades meiner Berichte die Gefahr von Verwechselungen besteht, erinnere ich ein letztes Mal daran, dass alle Schilderungen streng fiktiv sind.

Der erste Reisebericht: So. 11.9.2011

Die Früchte von Baum der Erkenntnis können faulig und holzig schmecken. Der Grund dafür, dass Barbitz bis zu unserer Ankunft noch nie von einem Menschen besucht wurde, der rein um der Neugierde willen gekommen war, liegt nicht darin, dass Barbitz ein verwunschenes abseitiges Fleckchen Erde ist, wo kauzige Einwohner in Holzhäuschen urtümlichen Riten nachgehen, keckernde Wildschweine im Mondenschein Ringelreihen tanzen und uralte Bäume ihren großzügigen Schatten über üppiges Unterholz werfen, ein zauberhaftes Örtlein also, dass von einer Gesellschaft im Aufbruch einfach – und zu Unrecht – vergessen wurde, und das nur darauf wartet, seinen Wiederentdeckern dankbar die Hand entgegenzustrecken.

Nein, Barbitz ist der scheußlichste Ort auf der Erde. Darin ist der Grund für die ausbleibenden Touristen zu suchen. Die schöne Lage zwischen zwei Seen reift nicht zur Idylle, weil der eine mit einer seifigen Substanz gefüllt ist, die weder farblich noch geschmacklich an Wasser erinnert und der andere vertraglich noch auf 27 Jahre als Ablaufbecken von allen südbrandenburgischen Klärwerken dienen wird. Flora und Fauna, die mit diesen beiden Seen in Einklang leben können, tragen ihren verzweifelten Lebensekel buchstäblich auf der Oberfläche und tragen so gleichfalls nicht zur optischen Heiterkeit der Umgebung bei. Die sechs Häuschen des Ortes haben insgesamt fünf Fenster und sind sämtlich in einem grau-braun-Ton angestrichen, den kein Malermeister mit Berufsethos anrühren würde.

Zwar hatten wir Anspruch auf Unterkunft im besten Hotel am Ort, doch mag man bereits erahnen, dass Babitz nicht nur über keine Auswahl an Unterkünften sondern gleich über gar keine solchen verfügte. So schlugen wir ein paar Zelte unter einer Gruppe mutierter Kastanienbäume mit hochtoxischen Früchten und Blättern auf. Zur Sicherheit verteilten wir die Atemmasken um in der Nacht keine bösen Überraschungen zu erleben. Und während Sandro der Werwolf sich bereits der Avancen von Bauer Hudel erwehren musste, der Sandro unbedingt mit seiner ältesten Tochter V17 verheiraten wollte (ein russischer Mähdrescher aus den 60er Jahren, wie sich später herausstellte), brachen mein Mann und ich auf, um etwas essbares aufzutreiben, denn wenigstens die nächsten 24 Stunden – eventuell sogar mehr, wenn Sandro wirklich V17 heiraten sollte – würden wir nun hier verbringen müssen.

Da sich außer Bauer Hudel noch kein Bewohner gezeigt hatte und unter den sechs Häusern keines war, das nach dem Verkauf von Lebensmitteln aussah, klopfen wir an de r Haustür mit den wenigsten Verbotsschildern (Verboten waren Betteln, Hausieren, Singen, Optimismus, religiöse Gespräche und Fragen nach der Vergangenheit: die Frage nach Lebensmitteln schien damit erlaubt zu sein.). Nach einigen Augenblicken öffnete sich die Türe einen kleinen Spalt breit und ein zusammengeniffenes Auge über einer breiten Kartoffelnase wurde sichtbar. Das Auge musterte meinen Mann und mich und kniff sich dann noch weiter zusammen. „Guten Tag“, schlug ich vor. „Wir sind die ersten Touristen in ihrem – äh – lieblichen – äh – Ort“, ergänzte mein Mann. Die Gestalt hinter der Türe hielt nun eine kleine Sprühdose mit Reizgas so in den Türspalt, dass wir sie sehen mussten. „Und wir hatten uns nun gefragt“, sagte ich, „wo wir unsere Reisegruppe, denn eine Kleinigkeit zu essen herbekommen können, um den Aufenthalt bei Ihnen zu überl… zu genießen.“

„Hier gibt’s nichts zu essen“, zischte die Gestalt. „Aber nicht doch“, sagte mein Mann freundlich. „Sie essen doch gewiss auch.“ Die Gestalt grunzte empört. „Wo kaufen Sie denn etwas ein?“ versuchte ich noch einmal. „Wir kaufen nie ein“, fauchte es hinter der Tür. „Aber wovon ernähren Sie sich denn?“ fragte ich geduldig. „Das haben wir noch nie einem Fremden gesagt!“ Mein Mann war verständnisvoll: „Aber natürlich nicht, es hat ja gewiss auch noch nie jemand gefragt. Da können Sie es doch uns sagen, wo wir schon danach fragen.“

Die Gestalt zögerte. „Catering“, sagte sie dann. „Was?“ riefen wir wie aus einem Mund. „Wir essen Catering“, wiederholte die Stimme. „Täglich?“ „Oh ja, also, es ist ja so: Jeden Tag um 8:30 Uhr – nach dem Kaffeetrinken treffen wir zwölf Dorfbewohner uns an der Sickergrube und denken uns die Storylines für „Verbotene Liebe“ aus. Die Produktionsfirma schickt jeden Tag einen Wagen mit Catering und einem Diktiergerät. Da sprechen wir dann die Storyline drauf und verputzen das Essen. Nach einer Stunde ziehen wir uns wieder zurück und warten auf den nächsten Tag. Nur so ist die inspirierte Qualität der Handlungsstränge sicherzustellen.“

Mein Mann und ich beschlossen, es dabei bewenden zu lassen, Oma Kasulke zu warnen, dass die Terme die sie hatte besuchen wollen, wohl doch eine Sickergrube war und zu verhindern, dass Jamie demnächst wieder erfolgreich ein Reiseziel vorschlagen durfte. Wir erwogen kurz, mit einem Schlackeklumpen der auf dem Gehweg lag „We were here“ an eine Hauswand schreiben, unterließen es aber aus der Angst heraus, damit die inspirierte Qualität der Handlungsstränge von Verbotene Liebe nachhaltig zu beeinträchtigen.

Der Zweite Reisebericht - von Leipzig nach China: 18.September 2011

„Bidde lassen Sie Ihr Gebäck nüsch ohnbeaufsischtigt. Blies, dohnt lief juur lagitsch ohnattendit.“
Es ist halb zwei Uhr morgens und wir sechs sitzen auf den Hartschalensitzen des Wartebereichs am Flughafen Halle/Leipzig. Blechern schallt die Bandansage zur Sicherheitssimulation in sympathischem Sächsisch durch die hohen Hallen. Oma Kasulke kann problemlos im Sitzen schlafen und so schnarcht sie rythmisch vor sich hin, den Entwurf eines Drehbuchs für Verbotene Liebe – das sie in Barbitz hat mitgehen lassen – mit beiden Armen an ihre Brust gepresst. Werwolf Sandro erhebt sich und gibt den schläfrigen Barkeeper an der flughafenobligatorischen Sektbar eine Daseinsberechtigung.
Außer uns sechs Weltreisenden scheint jeder gewusst zu haben, dass der nächste Direktflug von Leipzig nach Peking erst am nächsten Morgen gehen würde und so verbringen wir die Nacht allein mit den verbliebenen Flughafenpersonal, jenen unerschrockenen Kindern der Nacht, die dafür sorgen der Infrastrukturkoloss nur schläft aber nicht stirbt.
Rick und Jamie breiten auf dem Boden thermo-fähige Multifunktionsdecken aus und strecken sich darauf aus. Ich habe zwar nicht danach gefragt, doch Jamie erläutert mir, dass diese Decken warm sind, als Windschutz taugen, darin eingewickeltes Eis nicht schmelzen lassen und eine Verwendung als Paraglidingsegel erlauben. Ich erwidere, das beeindrucke mich nur, wenn diese Verwendungen auch alle gleichzeitig möglich seien. Jamie schnaubt ein wenig ob meiner Ignoranz, besinnt sich aber eines Föhlicheren und schüttet ein Beutelchen voller Münzen zwischen sich und Rick auf den Boden, und beide beginnen sogleich, die Münzen in ein Sammelbuch einzusortieren. Dies erweckt mein Interesse mehr als die Thermodecken. „Was ist das?“ will ich wissen.
„Unsere Schmünz-Sammlung“, antwortet Jamie. „Eine Sammlung von Münzen, auf denen die abgebildeten Politiker schmunzeln. Verstehst Du? Schmünzen!“
Ich greife nach dem Sammelordner und sehe tatsächlich eine alte Zweimarkprägung mit den Gesicht eines offenbar amüsierten Konrad Adenauers neben einer Zehnfrancmünze mit einem grinsenden Charles de Gaulle.
„Schmünzen sind zumeist Sonderprägungen, von denen es nur sehr wenige gibt“, sagt mir Rick. „Wir hoffen, auf dieser Reise noch ein paar zu finden.“
Ich nicke dazu und blättere auf die nächste Seite: auf eine Pappe sind zwei Münzen mit dem Konterfei eines feixenden Südseehäuptlings geklebt. Handgeschrieben steht auf der Pappe: „Für Hans-Werner und Heike, die jede Münze zum Lachen bringen. Alfred P'ktuela-Nsaankuu“.
Fragend halte ich Jamie die Pappe hin: „Wer sind Hans-Werner und Heike?“
Jamie wird über und über rot. Sie wirft Rick einen nach Rettung heischenden Blick zu. Rick greift nach dem Sammelordner und schaut mir verschwörerisch direkt in die Augen.
„Daniel,“ sagt er. „Kein Wort zu den anderen. Auch nicht zu Deinem Mann. Hans-Werner und Heike – das sind Jamie und ich. Rick und Jamie, das sind unsere Traveller-Namen, verstehst Du.“
„Nein“, sage ich ehrlich.
Jamie schluchzt ein bisschen und sagt dann: „Vor zwei Jahren waren wir schon mal mit den Rücksäcken unterwegs - auf dem Weg durch Tibet und zu uns selbst. Am Ziel unserer spirituellen Selbstfindung, dem Bed and Breakfast Siddatah in Lhasa saßen wir im Kreis der weltweiten Travellergemeinde am Feuer und erzählten uns Geschichten von unseren Reisen und es war wundervoll. Ich erzählte gerade von einem unwiderbringlichen Erlebnis mit einem Sonnenaufgang über der tibetischen Tiefebene, als Rick mich mit den Worten unterbrach: „Heike, war das nicht schon in Nepal?“. Da fingen die internationalen Traveller an zu kichern und hörten damit für zwei Stunden nicht mehr auf. Immer wieder wollten sie, dass ich meinen Vornamen noch mal sage und als sie dann auch noch Ricks Vornamen erfuhren, lachten sie bis ihnen die Tränen kamen. Nur meine Geschichte vom Sonnenaufgang wollten sie nicht mehr hören.“ Sie schluchzt noch mal ein wenig.
„Wir gehörten fortan einfach nicht mehr dazu,“ sage Rick. „Trotz unserer Fotoausrüstung, unserer Thermodecken unserer Trekkingschuhe, gehörten wir nicht mehr dazu.“
Ich versuche, verständnisvoll zu schauen. „Und dann habt ihr...“
„Ja, wir haben uns Travellernamen gegeben“, sagt Jamie. „Wir sind Rick und Jamie. Für ein Jahr. Für Euch vier und für den Rest der Welt.“
„Bestimmt nicht für die Grenzbeamten,“ sage ich, doch Jamie sieht mich fest an und antwortet: „Für alle!“ Ich halte ihrem Blick noch ein paar Sekunden stand. Dann schiebt sie das Sammelalbum zurück in ihren Rucksack. „Begleite mich in die Waschräume, Rick“, sagt sie. „Daniel braucht etwas Zeit um über die Bedeutung von Loyalität nachzudenken.“ Beide erheben sich und verschwinden in der gepflegten Toilettenanlage von Halle International.
Ich sehe ihnen nachdenklich hinterher. Oma Kasulke wird auf ihrem Hartschalensitz wach, blinzelt kurz und ruft mir zu: „Was haben die beiden denn? Sie haben sich doch nicht gezankt?“
„Nein, nein, Oma“, antworte ich. „Es ist eher ein Selbstfindungsproblem.“
„Dachte ich mir schon“, sagt Oma Kasulke. „Na was soll's. Mischen Sie sich da besser nicht ein. Die Reise wird Heike und Hans-Werner gut tun.“ Ich runzle die Stirn und sehe sie fragend an.
„Na was denn,“ sagt Oma Kasulke. „Die beiden sind heute schon fünf mal unter diesen Namen ausgerufen worden. Das kann doch nicht mal eine alte Frau ignorieren.“ Sie erhebt sich, drückt das lädierte Kreuz und ruft „Auf nach China!“

Der dritte Reisebericht (im Flugzeug nach China)

Der Direktflug Saxonian Air von Leipzig nach Peking hatte sich etwas verspätet, weil die sächsische Finanzverwaltung versehentlich angenommen hatte, das Flugzeug gehöre dem Sohn von Muhammar al Gaddhafi. Daraufhin hatte sie es beschlagnahmen lassen als Sicherheit für eine noch ausstehende Vergnügungssteuerzahlung, aber als sich herausstellte, dass das Flugzeug dem alten Gaddhafi gehörte, wurde es freigegeben und wir konnten unsere Reise beruhigt fortsetzen. „Gaddhafi ist einer der ganz großen Player im Reise-Business. Einer der ganz ganz großen!“ verriet mir Jan-Michael Traube, ein Unternehmensberater im modischen grauen Zwirn, der seit zehn Minuten neben mir im Flugzeug saß und in dieser kurzen Zeit bereits referiert hatte, wo und was er studiert hatte, welche Punkte sein Abschluss aufgewiesen hatte und wie diese brillante Note zu verstehen war. Er hatte seine Arbeitgeber aufgezählt und versichert, dass die Chinesen über China kaum etwas wissen konnten, was er, Jan-Michael Traube, nicht wusste. Mein Mann hatte sich nach fünf Minuten an uns vorbei gedrängt mit den Worten ihm werde übel, aber am Flug liege es nicht, einen neuen Platz gesucht. So war ich auf mich allein gestellt und versuchte mit einem gelegentlich eingestreuten „ach was“ den Redefluss zu stoppen. Mit mäßigem Erfolg. „Die Chinesen sind manchmal von überraschender Herzlichkeit“, wusste Jan-Michael Traube. „Einladungen kommen gelegentlich unvermutet und sind Ausdruck einer besonderen Verbundenheit. Als Gast kann man überrascht sein, welche Mühen der Chinese sich macht, um seinem Gast eine Freue zu bereiten.“
Die Präzision seiner Ausführungen und die unterstellte Mechanik chinesischer Sitten erinnerte sprachlich ein wenig an Brehms Tierleben und ich wollte schon fragen ob sich der Chinese auch zum Sonnenuntergang röhrend am Fluss mit Artgenossen trifft, doch Jan-Michael Traube ließ hierfür keinen Raum. Er informierte mich, dass es keinesfalls ratsam sein könnte, eine solche Einladung auszuschlagen, da dies einer groben Beleidigung „des Chinesen“ gleichkomme. Jan-Michael seufzte tief und sah an mir vorbei aus dem Fenster. „Die chinesische Sprache hat eine Tiefe und Ausdrucksmöglichkeiten, die wir uns im Deutschen nicht vorstellen können. Die Kenntnis der Sprache führt den Sprecher geradezu zu neuen intellektuellen Höhen, die sich im Prozess des Lernens erschließen!“
Ich knüllte die Textvariante der Sicherheitshinweise aus meiner Sitztasche zusammen und warf sie nach Sandro, dem Werwolf, der hinter mir in seinem Sessel döste. Ich traf ihn am Kopf und er fing meinen Blick auf. Ich fletschte die Zähne und deutete auf den weitersprechenden Jan-Michael um Sandro zu bitten, doch so ein paar Werwolf-Sachen mit meinem Nachbarn zu machen, aber Sandro zuckte nur die Schultern und wies auf die Sonne, die von Himmel lachte zum Zeichen, dass er seine Potenziale erst beim Mondenschein entfalten könnte.
Etwa eine Stunde später erkannte ich, das sich Jan-Michael längst im kommunikativen Autopilot-Modus befand und es weder nötig war, dass ich ihn ansah, noch dass ich ihm antwortete. Und so vergingen die nächsten Stunden und es sollte gar nicht mehr lange dauern, bis ich erfahren sollte, dass Jan-Michael zwar ein Schwätzer aber doch kein Dummkopf war! 

Der vierte Reisebericht - Vom Flughafen nach Peking

 

Der Empfang in Peking war wie Jan-Michael es gesagt hatte herzlich. Noch am Flughafen traten sechs festlich uniformierte Herren auf mich zu, fassten mich an den Ellenbogen und schoben mich vorbei an der Grenzkontrolle zu einem dunklen Wagen, der auf einer betonierten Fläche wartete. Ich konnte meinen Mann noch zurufen, in welchem Hotel wir untergebracht waren und musste mich sodann – etwas skeptisch – darauf verlassen, dass er dieses im fremden großen Peking schon finden würde hoffte aber, dass der fährtensichere Werwolf Sandro ihm dabei helfen würde.

Ein livrierter Page öffnete den Verschlag des Wagen mit einer tiefen Verbeugung, während ein Trompeter ein mir entfernt bekanntes Lied spielte. Die sechs Herren stiegen geschmeidig zu mir in den Wagen. Wie von Zauberhand kamen Platzprobleme gar nicht erst auf. Der schmalste und blasseste von ihnen saß links neben mir und war offenbar der Dolmetscher. Auf ein paar Worte des Beifahrers flüsterte er mir zu: „Es ist der Volksrepublik eine besondere Ehre. Machen Sie uns bitte die Freude, Sie für etwa zwei Stunden einer beschiedenen Wilkommenszeremonie unterziehen zu dürfen. Nicht weniger 1,2 Milliarden Chinesen wären sehr bestückt.“

„Bestückt?“

„Verzeihung. Ich meinte natürlich verglückt!“

„Ach so!“

Der Mann zu meiner Rechten reichte mir ein zartes Porzellanschälchen und sagte etwas.

„Regional zubereitete Haselnüsse mit Salzrand“, übersetzte der Mann, dem ich ohne sein Wissen den Namen Ping gegeben hatte.

Ich griff nach den krustigen aber morbiden Teilen und kaute kräftig.

„Faszinierend, es schmeckt gar nicht nach Haselnüssen“, sagte ich.

„Verzeihung, ich meinte natürlich Haselmäuse.“

„Ich würde gern demnächst ein Badezimmer aufsuchen...“

„Wir sind da!“

Der Wagen hielt vor einer prächtigen Pagode, deren Entree – potzblitz – mit einem roten Teppich ausgelegt war. Mehrere Personen standen davor und lachten freundlich als ich ausstieg. Ping wich nicht von meiner Seite, während ich dem Eingang zustrebte. „Herr Chia-Ju, lokaler Parteibonze und Herr Pi Liang, Leiter der deutsch-chinesischen Handelsdelegation, Ihr Herr Botschafter Rippig, Sie werden ihn kennen...“ „Flüchtig“, log ich, während Botschafter Rippig ganz rot wurde und etwas Unverständliches ausrief. „Frau Lung, der Kontaktkader zu koservativen europäischen Kreisen...“ Und so fort.

Ping geleitete mich in einen Saal, in dem mindestens zweihundert fein heraus geputzte Männer und Frauen saßen, die sich bei meinem Eintreten erhoben und sich freundlich in meine Richtung verbeugten. Ich wollte ihre Höflichkeit erwidern und deute ebenso kleine Verbeugungen in ihre Richtung an.

Ich errichte ein Rednerpult zu dessen Linken ein Sessel stand, der einen Herrscher als Thron hätte dienen können. Ping hieß mich sitzen und stellte sich selbst dezent hinter den Sessel, den Mund dienstfertig in Höhe meines linken Ohres.

„Es spricht Pi Liang, zu Ihren Ehren!“

Ich war sprachlos vor Freude über dieses aufwendige Hallo aus Anlass meiner ersten Reise nach China. Bestenfalls als kleines Licht im dunklen Chinaland hatte ich mich gesehen, ein bescheidener Botschafter, ein zurückhaltender Freund. Mit welcher Wucht man dies hier anders sah! Ich strahlte vor Freude. Pi Liang trat an das Mikrofon und Ping übersetzte – glauben Sie es mir oder glauben Sie es nicht: er übersetzte lippensynchron!

„Hochverehrte Gast, Ihr Besuch in der Volksrepublik ist eine Freude für alle die heute hier sind und auch für alle anderen Menschen in unseren schönen großen Land. Lange schon gelten Sie als Mensch, der aufgrund seiner Biographie ein besonders offenes Ohr für China hat und dies schon sehr häufig bewiesen hat.“

Ich nickte freundlich. Meine frühen Besuche am China-Stand auf dem Wochenmarkt in Brühl waren wohl nicht unbemerkt geblieben.

„Es ist den Menschen in China wichtig, eine Person mit ihrem Weitblick in der herausgehobenen Position zu wissen, die Sie bekleiden.“

Dem konnte ich nur zustimmen, da ich als Landesbeamter jederzeit für hohe Aufgaben zur Verfügung zu stehen habe und mir dieser potenziellen Verantwortung auch jederzeit bewusst bin.

„Sie dürfen sicher sein, dass wir Ihr Tun und Lassen von hier mit großer Aufmerksamkeit und ebenso großer Sympathie verfolgen.“

Nun war mir doch etwas unheimlich zumute. Kannten meine Gastgeber etwa das aus meiner Feder stammende und im Netz kursierende Sauflied von „gebratenen Hund aus Schanghai“? Ich lächelte schüchtern.

„Es ist mir daher eine wahre Freude, Ihnen heute aus Anlass einer privaten Einreise, die Ehrendoktorwürde der Universität Schanghai zu verleihen.“

Lauter Applaus brandete auf und wie alle Umstehenden erhob ich mich. Von heftigen Emotionen gerührt führte ich eine Hand vor den Mund und winkte mit der anderen ins Publikum während ich etliche der kleinen Verbeugungen ausführte, von den ich an nahm, dass sie recht chinesisch seien.

Ich hatte immer gehofft, eine Würdigung wie nun diese zu erleben, da sie mir die Mühen und Unbill einer Promotion ersparte, doch jetzt, da der Moment da war, war ich zu ergriffen um mir meiner eigenen Verdiente an dieser Ehrung bewusst zu werden.

Pi übertönte den Beifall mit seiner etwas näselnden Stimme und Ping übersetzte:

„Ich bitte Sie nun, an meine Seite zu treten und uns die Ehre zu machen, diese Würdigung anzunehmen.“ Ich trat zu ihm.

„Ich weiß, Ihr Name trägt hiermit nicht den ersten Doktortitel...“

„Oh doch!“ sagte ich und nickte heftig.

„Hihihi, wie bescheiden. Doch so kennt man Sie ja. Meine Damen und Herren, ich bitte Sie um einen Applaus für Ehrendoktor Bundeskanzler Angela Merkel.“

Der Beifall war nun tosend, ja euphorisch, der in der ersten Reihe sitzende Botschafter Rippig hatte sein Gesicht jetzt ganz in seine beiden Hände gestützt. Fotoapparate blitzten als Pi lächelnd eine Urkunde zwischen sich und mich hielt.

Der Beifall hielt auch noch an, als ich Pi schon gesagt hatte, dass ich nicht Bundeskanzler Angela Merkel bin, sondern Mayer-Gossing und Tourist. Mein getreuer Ping folgt mir auch noch, als mich bereits zwei auch festlich gekleidete aber diesmal sehr breitschultrige Chinesen zum Hinterausgang brachten und er übersetzte auch noch das aus der Ferne klingende hochtonige chinesische Geschrei, das uns von der Bühne folgte: „Und wir waren uns doch ganz sicher! Diese verdammten Europäer! Sehen einfach alle gleich aus. Wie ein Ei dem andern!“

 

Der fünfte Reisebericht - in der chinseischen Provinz

Der Yan-Lin-Lin-Kindergarten im chinesischen Puyong wird im jüngsten Ranking des Forbes-Magazine als weltweite Nr. 4 der Bildungserinrichtungen für Klein- und Kleinstkinder geführt. In den Unternehmensbereichen „frühkindliche Bildung (Allgemeines)“ und „frühkindliche Bildung (Fremdsprachen)“ sieht Forbes Yan-Lin-Lin sogar auf Rang 2. Lediglich Defizite im Bereich „frühkindliche Hygiene“ verhindern eine noch höhere Platzierung. Nur am Rande sei bemerkt, dass der Kindergarten „Rasselbande Dunckerstraße“ aus Prenzlauer Berg als einziger deutscher Vertreter abgeschlagen auf Rang 45 landete – nicht zuletzt wegen einer zu geringen Eigenkapitalquote!
Oma Kasulke, Sandro, Lars und ich hatten vorgestern das Privileg, an der Abschlussfeier der aus dem Kindergarten ausscheidenden Absolventen teilzunehmen. Der Grund für unsere Einladung zu dieser Feier ist fast schon eine eigene Geschichte wert und hat mit der nächtlichen Bekanntschaft des Werwolfs Sandro mit dem Gouverneur von Sen-Pinli zu tun, die an dieser Stelle zurückgehalten werden soll.
Jedenfalls wurden wir Ehrengäste der Veranstaltung. Passend, denn einer der 37 Schwerpunkte, die der Kindergarten bei der Kindesbildung setzt, ist „deutsche Sprache, deutsches Steurrecht und deutscher Humor“, denn für letzteren haben alle Mitglieder des Zentralkomitees der chinesischen KP eine ausgeprägte Schwäche.
Nach ein paar für uns unverständlichen weil in Mandarin gehaltenen Reden von Funktionären, trat endlich Li Poipo ans Mikrofon, oder besser gesagt: versuchte ein Bediensteter, das Mikrofon auf Höhe des Mundes von Poipo herunterzufahren, denn als bester aber nicht größter Absolvent war Poipo gerademal 60 cm groß.
Leider ließ das Mikrofon eine solche geringe Höhe nicht zu. Der Bedienstete tat sein Bestes, er schwitzte und war puterrot im Gesicht, als der gerade mal fünfjährige Poipo ihn mit einer ungeduldigen Geste verscheuchte und aus der Tasche seines winzigen Anzuges ein tragbares Mikrofon zog, das er sich mit geschmeidiger Geste am Ohr befestigte. Dann sprach er:
„Ist doch immer das Beste, alles bei sich zu haben, nicht wahr? Ich darf beginnen, Herr Gouverneur, Frau Rektorin, Frau Vizerektorin, Herr Bildungsrat, verehrte deutsche Ehrengäste, meine Damen und Herren: Ich möchte mich in Respekt vor unseren deutschen Gästen, dem Gegenstand unserer Studien und in dankbarer Erinnerung an die frühere Kolonialmacht in Kiatsou – und weil ich weiß, dass Sie alle dies Sprache sprechen, auf Deutsch an Sie wenden! Es ist für mich - für uns - heute ein bewegender Tag: die erste professionalisierte Periode des lebenslangen Lernens ist zu Ende und obwohl wir alle die Bürde und die Gewissheit auf unseren schwachen Schultern spüren, dass wir noch sehr sehr viel lernen müssen, um den Erwartungen, die auf uns ruhen und die wir auch selbst an uns richten, zu erfüllen, wird kaum ein Ausdruck unserer Gefühlswelt gerechter als jene Ode an die Freude, die ich Ihnen nun gern vortragen möchte.“
Blitzschnell sprang Poipo vom Rednerpodest und trippelte mit winzigen Schrittchen zu einem schwarzglänzenden Konzertflügel. Er hüpfte auf den Hocker und öffnete schwungvoll den Deckel des Instruments. Leider konnte ich seine winzigen Finger nicht sehen, wie sie über die Tasten eilten während Poipo überraschend sonor sang: „Freude schöner Gotter Götterfunken, Tochter aus Elysium, wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligtum...“
Kurz darauf - Poipo hatte noch ein selbstgedichtetes Liebeslied, das ihm selbst gewidmet war und dann noch ein kurzes Potpourri aus den schönsten deutschen Volksliedern vorgetragen – trippelte Poipo wieder ans Mikrofon und sagte:
„Es ist nun an der Zeit zu danken. Danken will ich unserer strengen Rektorin - für ihre liebende Strenge. Ich will auch den Pädagogen danken, die ihre Bedenken Unterfünfjährige zu drillen aufgegeben haben. Ich will den Sanitätsbeauftragten danken, an die ja kaum mal jemand denkt, die aber für jede volle Windel eine wirksame Lösung parat haben...“
Ich konnte sehen, wie ein Mann im Blaumann, der an eine Wand gelehnt dastand, sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel wischte.
„...und danken möchte ich auch unseren deutschen Ehrengästen, die als Abgesandte der Kultur von Goethe, Hitler und Mario Barth herab steigen in die chinesische Provinz um unseren so harmlosen Ringen um etwas kulturelle Teilhabe so wohlwollend zuzusehen. Ich danke unserer Bibliothekarin, die...“
Wenn das Ausbildungsniveau des Yan-Lin-Lin bei „frühkindlicher Hygiene“ ebenso gut gewesen wäre wie in den anderen Bereichen, wäre die Bibliothekarin sicher noch zu ihrem verdienten Lob gekommen. Poipo hätte vielleicht auch noch Hindenburg für seine Verdienste beim Überwinden der ersten deutschen Demokratie loben können und er hätte auch nicht schluchzend (er) und mit spitzen Fingern (die Rektorin) von der Bühne gezerrt werden müssen und der Mann im Blaumann, hätte an jenem Tag wohl auch nicht mehr tätig werden müssen.
Abends beim gemütlichen Ausklang des Tages war Poipo dann auch wieder fröhlich, er schlug mich dreimal beim Power-Sudoku, erklärte Sandro die Herkunft des Werwolfsmythos und verlor dann gegen meinen Mann im Reis-mit-Stächen-Essen.
Morgen treffen wir Rick und Jamie wieder – die wollten irgendwo den Dalai Lama retten, und weil sie sich so gefreut haben, haben wir ihnen nicht gesagt, dass der gar nicht in Gefahr ist – und dann geht’s wieder auf die Piste. Auf nach ...

Der sechste Reisebericht

Bali!

Unser Abschied aus China war weniger herzlich als der vorangegangene Aufenthalt. Das hatte wesentlich mit der Urlaubslektüre meines Mannes zu tun, der nämlich soeben „herz der Finsternis“ von Joseph Conrad beendet hatte. Im unmittelbaren Anschluss war  er auf den Gedanken verfallen, in den chinesischen Bergen ein Häuflein Menschen um sich zu scharen und ihnen als „Dalai Larsa“ als Götze und gütiger Diktator zu dienen. Nach nur wenigen Tagen im neuen Amt fanden die frisch ernannten Untertanen aber schon, dass er die gütige Rolle noch ausfeilen und die Diktatorenrolle noch abspecken könne und wollten ihn insoweit einem Ausbildungslager für Diktatoren – betrieben von Joschka Fischer und Gerhard Schröder in der Nähe von Heilbronn – überantworten, doch noch bevor es hierzu kam, fand auch die chinesische Zentralverwaltung, dass die Neuinstallierung lokaler Götzen, die nicht Mitglied der kommunistischen Partei oder wenigstens der Handelskammer waren, noch verfrüht sei.

Nachdem Rick und Jamie, Sandro, Oma Kasulke und ich meinen Mann an Bord eines Rafting-Kanus über einen Gebirgsbach in Himalaya einem multilateralen Interessenskonflikt entrissen hatten, durften wir schließlich ausreisen, weil Lars versprochen hatte – unter Anerkennung eines chinesischen Diplomatenpasses als Gegenleistung – nie nie nie wieder nach China und erst recht nie wieder in die nunmehr abtrünnige Provinz Laros einzureisen. Ein Versprechen, das er – am Rande bemerkt – schon nach 30 Minuten brach, weil er sein iPad am Grünkerndönerstand am Flughafen in Peking hatte liegen lassen.

Unsere Ankunft auf Bali hatte sich damit etwas verzögert, sehr zum Ärger von Oma Kasulke, die terminlich angebunden war. Sie hatte nämlich zugesagt, unter dem Künstlernamen Anabel Medina-Garrigues an der B-Weltmeisterschaft der Tennisdamen auf Bali mit einer Wildcard teilzunehmen. Die leichte Skepsis, die wir ihr hierfür entgegenbrachten – immerhin war Oma Kasulke schon vor Jahren dazu übergegangen, ihre Hüftoperationen mit Buchstaben zur besseren Unterscheidung zu versehen – wischte sie mit der Bemerkung weg, für eine  Finalteilnahme werde es wohl schon reichen. Eine zutreffende Einschätzung, wie sich zeigen sollte.

Dem Phänomen Damentennis begegnet das Fachpublikum heute mit unterschiedlichen Graden des Desinteresses, was wohl an einer großen Zahl optisch wie akustisch kaum mehr unterscheidbarer Spitzenspielerinnen liegt. Unter den verzichtbaren Veranstaltungen der WTA-Tour nimmt die B-Weltmeisterschaft auf Bali, also das Turnier der Spielerinnen, die sich nicht für die A-Weltmeisterschaft qualifiziert haben, einen der vorderen Plätze ein. Es fällt zum einen schwer, hierfür ein Publikum zu finden und zum andern ist auch der Loser-Stolz unter den Tennisspielerinnen nicht so ausgeprägt, dass sie in Scharen zu diesem Turnier strömen würden. Dem Problem mit den Zuschauern ist die lokale Vermarktungsagentur entgegengetreten, indem sie mit der Behauptung geworden hat, Besucher könnten schönen Frauen aus der ganzen Welt beim Schmetterlingsfangen mit straff bespannten Netzen zusehen, was immerhin noch so nah an der Wahrheit ist, dass sich der Vorwurf des Betruges nicht halten lässt. Die beiden Tennisprofis, die bereit waren, selbst anzutreten wurden ergänzt durch Komparsen und so war auch Oma Kasulke in die Pflicht genommen worden, denn wie sie uns erläuterte habe sie dem Turnierdirektor, mit dem sie in den 1960er Jahren verheiratet war, noch einen Gefallen geschuldet.

Und so waren wir tatsächlich dabei, als Oma Kasulke, die mit einem Badmintonschläger angetreten war („Der große Schläger, den die mir geben wollten, war wirklich zu schwer. Ich bin doch auch nicht mehr die Jüngste.“) das Finalspiel gegen die real existierende Ana Ivanovic mit 3:6 und 0:6 verlor.  Die 3:0 Führung im ersten Satz, mit der Oma Kasulke aus Gründen der Chancengleichheit hatte auf den Platz gehen dürfen, hatte ihr wenig genützt, doch da Oma über die Regeln des Spiels wenig wusste, war sie auch nach dem von Ivanovic verwandelten Matchball noch der Meinung, nun B-Weltmeisterin im Damensquash zu sein, was unter mehreren Gesichtspunkten unzutreffend war. Und doch will ich gestehen, dass der Anblick unserer alten Gefährtin in einem erschreckend kurzen Tennisröckchen auf dem Hardcourt von Bali keinesfalls war, was ich erwartet hatte: das vorletzte und heftig lächerliche Aufflackern eines verglühenden Lebens im gleißenden Sonnenlicht eines Rentnerparadieses. Oma Kasulke sprang, hetzte, ächzte, lachte, stürzte und betrank sich hemmungslos auf der Party nach dem Match. Es wurde uns eine Hymne an die Lebensfreue aufgeführt, dreist, unverfroren, voller Leichtigkeit und – für mich am beneidenswertesten – ohne Sorge um die eigene Kompetenz. Es wird uns sicher noch ein wenig gefallen auf Bali!

 Der siebte Reisebericht - auf dem Dach eines Hotels in Manila

Es gibt Gefühle, die so eigentümlich einer ganz bestimmten Situation zuzuordnen sind, dass sie dadurch unverwechselbar werden. Das Gefühl im Wartezimmer meines Zahnarztes ist so eines, der Geruch im Treppenhaus meiner Oma und auch das was ich empfinde, wenn Tante Ingrid eine Käseplatte anbietet.
Das Gefühl, das sich bei mir immer einstellte, wenn ich vor „Wetten dass…?“ saß, war auch ein sehr eigenes. Ich erinnere mich an Schokolade, mehrere Gläser Wein, Eins zu werden mit dem weichen Sofa unter meinem Hinterteil, daran, die Gewissheit, Zeit zu verschwenden zu ignorieren, weil es quasi amtlich erlaubt – ja, Bürgerpflicht – war.
Ein Rest dieser längst zur Erinnerung verblassten Empfindung kehrt selbst dann zu mir zurück, wenn ich auf einem Hoteldach in Manila sitzend um fünf Uhr morgens Ortszeit – nach Jahren zum ersten Mal wieder – der Liveübertragung von Thomas Gottschalks letztem Auftritt folge. An meine Schulter gelehnt schnarcht eine alte Frau, vor mir auf dem Boden futtert ein Werwolf die verbliebenen Chips auf und mein Mann serviert zwei Rucksacktouristen Salamihäppchen. Die Szenerie ähnelt meiner rheinischen Kindheit verblüffend.
Wir geben uns dem Sog hin, der den Betrachter wieder in die 80er zu zerren scheint. Während ich den Gedanken verscheuche, beim nächsten Mal vielleicht doch Helmut Kohl zu wählen, wird mir bewusst, dass wir das Ende erleben: der Ende der alten Bundesrepublik. Gottschalk hat länger durchgehalten als Staubsaugervertreter, Gewerkschaften und Toast Hawaii. Aber jetzt geht er auch, jetzt…
„Rick und ich haben auch abgelehnt,“ unterbricht Jamie meine Gedanken. „Was?“ frage ich irritiert, während Meatloaf Gottschalk eine CD schenkt, „die morgen heraus kommt!“ „Wir machen nicht die Nachfolge von Gottschalk“, sagt Jamie. „Es geht einfach nicht.“
„Das will ich doch hoffen“, sage ich. „Wie kommst Du denn darauf?“
„Man hat uns gefragt“, antwortet Jamie. „Wir waren fast zweite Wahl. Direkt nachdem die ersten abgesagt hatten. Rick und ich hatten früher ziemlich beliebte Auftritte vor Gruppen mit unserem Puppentheater. Das ZDF schlug uns vor, unter den Künstlernamen Paolo und Courtney Felix die Show zu übernehmen.“ „Aber…?“ frage ich. „Na ja, du weißt ja, die Weltreise…“, sagt Jamie. Ich bin ein bisschen gerührt.
„Ich finde, dass Dirk Nowitzki für jeden Menschen auf der Welt ein Vorbild ist“, sagt auf dem Bildschirm gerade der Basketballer Schaffartzik in artiger Verlegenheit. „Nicht für mich!“, ruft Sandro dazwischen. Ach ja, Fremdschämen ist auch so ein Gefühl, das der Betrachter von „Wetten dass…“ kennen lernt, wenn Menschen, deren Instrument das Wort nicht ist, zwischen Schappatemstößen sinnlose Satzfragmente erbrechen. Der Auftritt der Golferin Anka Lindner bestätigt mich.
Als Gottschalk zwischen Glitzerlämpchen die Bühne verlässt und Lars fragt, ob noch jemand Schnittchen wolle, weiß ich, dass die Welt von morgen eine andere ist. Eine bessere? Keine Ahnung: Spätestens mit dem Ende von Gottschalk im ZDF entspricht diese Frage nicht mehr dem Zeitgeist.

Der achte Reisebericht - irgednwo in Indonesien 

Nicht weit von Jakarta liegt ein Dorf, dessen Name die Zunge vor Herausforderungen stellt, dessen Bewohner einen eigenen Vulkan halten – und verehren – und in dem es fast alles Schöne im Überfluss gibt, jedoch merkwürdiger weise weder Anwälte noch Psychologen.

In Bs-Kla-voondaluti, in der Landessprache bedeute das „Rotweinsauce“, fand unsere kleine Reisegruppe die Ruhe, die uns in Manila vorenthalten blieb und so kamen wir überein, ein paar Tage dort zu verbringen, was auf das ungeteilte Wohlwollen der Einheimischen stieß, die häufig Zeit für ein Schwätzchen fanden und fasziniert unseren Berichten über die Sorgen, mit denen ich unsere deutsche Heimat herumschlug, lauschten.

Gestern – Potzdonner – störten jedoch Rick und Jamie die Harmonie:

Man muss wissen, dass hinter Rick ein kurzes aber leidenschaftlichen Leben als Mediziner liegt, welcher er aber längst gegen andere – mutmaßlich bessere – Leben eingetauscht hat. Bleibendes Verdienst seiner Tätigkeit als Arzt war die Entdeckung und Bestimmung der Anatidaephobia – der Angst, von Gänsen beobachtet zu werden.  Bei der Erforschung dieser Krankheit hatte Rick die bis heute einzige Patientin der Anatidaephobia kennen und später lieben gelernt: Jamie, die damals noch nicht ihren Abenteurernamen trug sondern einfach Heike Busch hieß.

Vor wenigen Tagen nun hatte Rick den Newsletter seiner früheren Fakultät an der Universität Bayreuth per Email empfangen und dort erfahren, dass die Universität mehrere aberkannte Doktortitel vormals prominenter Personen unter jungen akademischen Talenten verlosen wolle. Hierdurch solle das Verfahren transparenter werden und endgültig die wünschenswerte Distanz zwischen akademischem Grad und persönlicher Leistung geschaffen werden.  Teilnahmekriterium für Mediziner sind wenigstens zwei selbst entdeckte Krankheiten. Diese Nachricht erweckte Ricks scheinbar metertief begrabenen akademischen Ehrgeiz mit einem Schlag zum Leben und noch in der gleichen Nacht ersann er mit der im Erleben seltener Krankheiten erfahrenen Jamie einen neuen – bisher unbeschriebenen – pathologischen Zustand.

Alles, was er nun noch brauchte, waren Personen, die an dieser neuen Krankheit litten.

Diese lange Vorrede erklärt das Erscheinen von Rick und Jamie in Begleitung eines prächtigen Ebers, dessen Schnauze ein quadratisches schwarzes Bärtchen zierte, während Lars, Oma Kasulke und ich mit Ben-Laui und Honulutia am Lagerfeuer die Vorzüge von kapitalgedeckten Sozialversicherungssystemen diskutierten.  Die beiden Indonesierinnen fühlten sich aber in der Gegenwart des Schweins sichtlich unwohl und verabschiedeten sich alsdann hastig und unter dem Vorwand, noch ein paar weiße Kleider für nächste Woche weben zu wollen.

Um seine angenehme Konversation gebracht schnauzte mein Mann, wieso man unsere Gastgeberinnen mit diesem grotesk verkleideten Schwein habe kränken müssen. „Es geht nicht um die Kränkung, bester Lars“, erklärte Rick, während er sich zu uns setzte. „Ich habe Grund zu der Annahme, dass unter der hiesigen Bevölkerung ein Leiden verbreitet – um nicht zu sagen: diffus – ist, das sich in der Wissenschaft seit neuestem Porcadolphobie nennt!“

„Porcadolphobie?“

„Ja,“ sekundierte Jamie. „ Es handelt sich um ein gerade in den hiesigen Gesellschaften – aber natürlich auch in unserer – erschreckend weit verbreitete Zwangsvorstellung, ein Schwein könnte sich zum brutalen Gewaltherrscher aufschwingen.“

„Und dieses Schwein hier….“

„Ja, dieses Schwein wird uns helfen, unsere Patienten zu erkennen. Fürchtet Euch nicht. Es trägt die erkennbare Tendenz zur Alleinherrschaft nur als Mime zur Schau. In Wahrheit hat es zwar konservative Ansichten, verbleibt aber im demokratischen Spektrum.“

„Davon bin ich ja überzeugt. Aber wo verbleibt es denn überhaupt? Ich sehe es nicht mehr.“

Etwa eine Stunde suchten wir nach dem Schwein mit dem Bärtchen, doch blieben wir erfolglos. Schließlich erschloss sich uns die grausame Wahrheit. Als wir zum Lagerfeuer zurückkehrten, drehte Ben-Laui anmutig einen köstlich duftenden Spieß über dem Feuer. Unsere entsetzten Blicke erkennend erläuterte sie ein wenig verschämt: „Als wir das Schwein mit dem Bärtchen sahen, haben wir Angst bekommen, es könnte sich zum Diktator aufschwingen. Da haben wir es lieber gleich gepackt, gekillt und gegrillt. Ich hoffe, Ihr seid uns nicht böse… Aber Ihr hättet an unserer Stelle ja auch nicht anders gehandelt.“

Jetzt waren wir etwas beschämt. „Na klar… äh… also… wenn wir ein Schwein mit Bärtchen sehen, dann machen wir ihm auch gleich den Garaus. … jedenfalls in Zukunft.“

Der neunte Reisebericht - auf Atafu

Wer sich fragt, warum man von uns dieser Tage so wenig hört, dem möchte ich das in der notwendigen Kürze erläutern. Allgemein bekannt ist ja vielleicht, dass das Südseeparadies Samoa zum Ende des vergangenen Jahres die Datumsgrenze dadurch überquert hat, das es sich den 30. Dezember 2011 als Folgetag des 29. sparte und ohne Umschweife zum 31. überging. Dies hat zur Folge, dass Samoa nun nicht mehr als letzter den alten Tag noch auslutscht, sondern als erster den neuen Tag begrüßt. Menschlich –emotional ist dieser Seitenwechsel zu verstehen. Außerdem soll er dem bedeutsamen Handel mit Australien dienen.
Wir befinden uns gerade auf dem Atoll Atafu, das sich ein ähnliches Projekt ausgedacht hat. Dessen Scheitern müssen wir derzeit aus nächster Nähe besichtigen. Die Atafesen haben nämlich den Entschluss gefasst, ihren Januar über die Jahresgrenze an den Schluss des Jahres zu verlegen und lassen ihn deshalb dieses Jahr einfach weg.
Von diesem gewagten Plan wussten wir nicht, als wir am 31. Dezember mit einem Schlauchboot auf Atafu ankamen, welches Oma Kasulke – zwecks Erfüllung eines Lebenstraums durch eine Haifischkolonie gesteuert hatte. Die Atafesen gehen bei der Umsetzung ihres Idee rigoros, geradlinig und wissenschaftlich unberaten vor: Sie haben das Atoll den ganzen Januar über in Packpapier geschlagen und sich am 1.1.2012 zu einem Monatsschläfchen hingelegt. Dieser Umstand hindert uns, die Insel zu genießen oder zu verlassen – womit nicht gesagt sein soll, dass hier nicht eine erzählenswerte Erinnerung entsteht. Aber derzeit könnten wir alle darauf verzichten. Gestern hat Sandro sechsmal in Folge gegen Oma Kasulke beim „Ich packe in meinen Koffer“ verloren und hätte ihr darauf beinahe ins Bein gebissen. Da uns die Gesellschaft EINES Werwolfes aber reicht, haben wir das verhindert.
Hier muss ich Schluss machen, denn ich sehe schon wieder den Schlafaufseher kommen, der verhindern soll, dass die Insel während des Januars zum Leben erwacht. Also, wohlan einziges Internetcafe von Atafu – wir sehen uns im Februar!

Der zehnte Reisebericht - Hobart

Gute Nachrichten finden ihren Weg schnell um die halbe Welt: Die Linkspartei beabsichtigt, Oma Kasulke in der Bundesversammlung als ihre Kandidatin zur Präsidentenwahl vorzuschlagen. Woher die Begeisterung von Gesine Lötzsch und Genossen für Oma Kasulke rührt, ist mir nicht bekannt. Ich kann Oma Kasulke auch nicht danach fragen, denn – und hier beginnen nun die schlechten Nachrichten – sie sitzt im Bezirksgefängnis des tasmanischen Hobart.

Wie konnte es dazu kommen? Wir haben Atafu verlassen, wie wir es betreten haben – an Bord eines Schlauchbootes. Die Atafesen haben nämlich geträumt, dass ihre Methode den Januar ans Jahresende zu verlegen, wissenschaftlich aber auch wirtschaftlich betrachtet, der reine Unfug war. Daraufhin wurden alle Bewohner geweckt und man beschloss kurzerhand, dieses nun etwas unglücklich angefangene Jahr wegen seines üblen Karmas gleich ganz auszulassen und legte sich daher bis zu den Vorbereitungen für Sylvester 2012 wieder hin. Daraufhin heulte unser Werwolf etwa drei Tage lang den Mond an, den er durch die Packpapierhülle um die Insel doch gar nicht sehen konnte. Schließlich schüttelte er zwei schlafende atafesische Germanisten aus ihrem bettähnlichen Schlauchboot, riss ein Loch in die Hülle um die Insel und hetzte uns fünf vor sich her auf das zu Wasser gelassene Boot, und ruderte uns so lange wortlos durch den Pazifik, bis wir schließlich an der Küste Tasmaniens angekommen waren.

Nun fiel der Empfang in Australien für uns weniger herzlich aus, als das Klischee eines zuwanderungsfreundlichen Australiens hätte erwarten lassen. Noch am Strand nahmen uns Grenzsoldaten im Empfang. Sandro schlug sich sogleich in die Büsche, weil er einen entfernten Verwandten, den tasmanischen Steppenwolf, besuchen wollte. Mein Mann und ich erhielten die Einreiseerlaubnis unter der Auflage uns zunächst sieben Tage in einem 50 * 50 Meter großen Areal am Strand aufzuhalten. Sollte sich unser Aufenthalt nicht nachteilig auf Flora und Fauna auswirken, würden wir anschließend auch den Strand verlassen dürfen.

Rick und Jamie erhielten eine Einreise- und sogar Arbeitserlaubnis, weil sie versicherten, die australische Kultur um deutsche Berliner bzw. Pfannkuchen bereichern zu können.

Oma Kasulke hingegen wurde vom Fleck weg verhaftet. Ihr Vorleben war ihr zum Verhängnis geworden. Die internationale Fahndungsakte, die ein Grenzpolizist vorwurfsvoll verlas, warf ihr vor, in China ein Patent für Kinderarbeitshandschuhe gestohlen, einen balinesischen Strand verbotswidrig splitterfasernackt betreten und bei einer Massenhochzeitszeremonie in Manila gleich vier Männer geheiratet zu haben. Oma Kasulke lehnte den angebotenen Anwalt lächelnd und mit den Worten „ja, ja, ich bin schon ein Kerl“ ab und bestand darauf, ihre Verteidigung selbst vorzunehmen.

Im Bezirksgefängnis von Hobart hat sie mittlerweile Gesellschaft von Rick und Jamie. Deren Berliner sind nämlich in Tasmanien nur auf den ersten Biss gut angekommen. So freundschaftlich der erste Zubiss in Fettgebäck und Marmelade ja anmutet, so unbequem gestaltet sich der weitere Verzehr, wenn die heraustropfende Füllung Hände verklebt und Strandkleidung verschmutzt, wenn Bienen und Wespen Zuckerreste an Fingern und Wangen finden und Gaumen und Zahnzwischenräume verklebt sind. Die Lebensmittelpolizei erkannte im Verkauf der Berliner einen unfreundlichen Akt der beiden Rucksacktouristen und beantragte Haftbefehl. Unser Finanzier Auto-Bildhat angekündigt, einen Anwalt, frisches Geld für uns alle und eine Hundeleine für Sandro, den Werwolf, zu schicken, Bis es soweit ist, haben Lars und ich es in unserer biologischen Quarantäne wohl am zuträglichsten angetroffen, während unsere Freunde ihre Angelegenheiten sortieren und die Linke nun einen anderen Quotenzausel als traditionsgerechten Zählkandidaten für die Präsidentenwahl finden muss. Aber das schaffen die schon. Das schaffen die schon…

Der elfte Reisebericht

Ankunft auf Hawaii

Es ist schon wieder viel passiert in der Zwischenzeit. In Australien ist Oma Kasulke an nur einem einzigen Tag von drei unterschiedlichen Aborigines-Gruppen als Geisel genommen worden („Das war auch für mich ein besonderer Tag“, sagte sie hinterher.). Auf Neuseeland erhielten Sandro und ich je eine kleine Gastrolle in der laufenden Verfilmung von „der kleine Hobbit“. Wir stellen ein verschrobenes alterndes Hobbitpaar dar, das – ohne in die Rahmenhandlung einzugreifen – im Hintergrund als kritischer Kaufinteressent einer Eigentumswohnung auftritt.  Zu Dreharbeiten mussten wir nicht erscheinen, da die digitale Technik nur Fotos von uns benötigt, im Übrigen werden die Aufnahmen von Computern nach unserem Abbild  generiert; die Computer stehen ihrerseits in einem nur virtuell konstruierten Computerstudio. Mein Mann Lars indes erhielt eine Sprech- und Bewegungsrolle für einen roten Drachen, der am Wegesrand des Auenlandes Waldpilze feilbietet – es ist jedoch anzunehmen, das die mit Lars gedrehten Sequenzen nur in Director’s cut zu sehen sein werden.

Mittlerweile sind wir auf Poari eingetroffen, der kleinsten Insel des US-Bundesstaates Hawaii. Poari ist ein wenig ungewöhnlich, schon wegen seines rechtlichen Status: Die Insel hat keine Verwaltung sondern wird untersteht dem Generaloberwebel Krabbe, der mit quasi diktatorischen Vollmachten und warmherziger Strenge über das Schicksal von 26 Einwohnern und ein paar Touristen wacht. Wie es zu dieser Situation in den demokratischen USA kommen konnte ist ein wenig kurios: Krabbe war lange Zeit Angehöriger der amerikanischen Streitkräfte, wurde jedoch in all dem Jahren seiner Zugehörigkeit niemals befördert. Unter dieser Belastung, entwickelte er die Zwangsvorstellung, er sei Herrscher über eine kleine Insel im Pazifik. Sein Zusammenleben mit seinem Kameraden wurde von dieser Zwangsvorstellung wesentlich verkompliziert und schließlich befand man ihn für verrückt und entließ ihn aus dem Dienst. Im anschließenden Klageverfahren machte Krabbe geltend, die US-Armee sei schuld an seiner Verrücktheit, da sie ihn nie befördert habe. Zum Ausgleich müsse sie ihn entweder befördern oder aber seine Zwangsvorstellung verwirklichen und ihn zum Diktator einer Insel machen. Der in erster Instanz zuständige Richter hatte etwa 2 Flaschen Rotwein gerunken, als er Krabbes Klage stattgab und das amerikanische Verteidigungsministerium nahm das zugestellte Urteil nicht ernst und hielt es für einen Scherz und versäumte die Frist für die Berufung.

Ein Rechtsberater sprach sich gegen die Wiedereingliederung Krabbes in die Armee aus und so erlaubte man ihm, sich einen militärischen Fantasietitel auszudenken und kaufte den 26 Bewohnern Poaris ihre demokratischen Rechte zum Marktpreis ab. „Mit Guantanamo haben wir wirklich ein Tor geöffnet, das wir nicht mehr so einfach zukriegen“, soll der Verteidigungsminister geseufzt haben.

Generaloberwebel Krabbe ist fett, klein und hat wässrige blaue Augen mit wulstigen Augenringen darunter. Da er keine Mitarbeiter hat, verrichtet Krabbe die ganze Arbeit eines Diktators selbst. Er führt das Einwohnerverzeichnis, nimmt Eheschließungen vor, erteilt Abschlusszeugnisse, ordnet Manöver an und lässt sich gelegentlich huldigen. So lernten wir ihn kennen, denn als unser Boot in der kleinen Siedlung anlegte waren die Einwohner gerade dabei ihm ohne das ganz große emotionale Engagement für die Erfindung des Fernsehgerätes zu huldigen. Aus Anlass unserer Ankunft unterbrach er die Zeremonie aber höflich und kontrollierte persönlich unsere Papiere.

Wir werden nun eine Woche bleiben, und habe das Gefühl von dieser faszinierenden Person noch berichten zu können.

Der zwölfte Reisebericht - in Reich von Generaloberwebel Krabbe - 22. April 2012

Der Generaloberwebel Krabbe hatte für den vergangen Freitag eine „Einladung im verkürzten Verfahren“ zur seiner Beförderung und anschließender Gesprächsrunde zum Thema „Die moderne Diktatur in Spannungsfeld von Effizienz und Social Media“ eingeladen.  Verkürztes Verfahren bedeutet in Reiche des Herrn Krabbe, dass er selbst bei jedem eingeladenen Bürger vor- und die Einladung aussprach und den Bürger dann gleich mit zur der abzuhaltenden Veranstaltung nahm. Da Herr Krabbe weniger als 30 Untertanen hat, pflegt er – über Gerechtigkeitssinn verfügt er – zumeist alle seine Untertanen auf diese Weise einzuladen. Und wenn Touristen anwesend sind, auch diese.

So wurden wir Reisenden zwischen den vollständig herbei getriebenen Bürgern in einem Stuhlkreis auf dem Dach des „Capitol“ platziert und wurden zunächst Zeuge einer Beförderung des Diktators. Krabbe ergriff das Wort und begann sich in rührenden Tönen zu loben. Mein Nachbar, ein braungebrannter Senior mit riesigem Hörgerät im Ohr flüsterte mir zu: „Krabbe hat seinen Titel alle paar Monate gründlich satt. Dann erfindet er einen neuen und führt eine Beförderungszeremonie durch. Er hat angefangen als Oberstabsrekrut, später war er mal eine Weile Husarenkapitän zu Wasser und ich erinnere mich auch nach daran, wie er sich zum Ministerialministerpräsidentenleutnant ernannt hat.“

„Und wie wird er nun ab heute heißen?“ fragte ich neugierig.

„Lassen wir uns überraschen“, lachte der Alte.

„… und diesen Schutz, den Sie, liebe Untertanen, Ihren Liebsten schuldig sind – vor Feuer, Wasser, Terror, Windpocken, Lepra, ja vor allem Lepra und Hyänen, den bekommen Sie durch die winzige Aufgabe ihrer demokratischen Freiheit von mir, von Ihrem Diktator auf Lebenszeit“, sagte Krabbe gerade und vor lauter Rührung stand ihm ein kleines Tränchen im rechten Augenwinkel. Routinierter Jubel brandete auf.

„Und auf Grund meiner Verdienste ist es heute an der Zeit, mich im Amt zu befördern. Bitte erheben Sie sich zur Ernennung. Danke! Ich ernenne mich selbst hier und heute zum Säbeltragenden Servo-Generaladjutanten am Bande, kurz Säseg Krabbe. Bitte nehmen Sie Platz.“ Unter erfürchtigem Gemurmel und hoffnungsvollen Blicken auf das Buffet nahmen wir wieder Platz. „Hui-ui-ui-ui“, machte der alte neben mir und grinste mich an.

„Bevor wir den heutigen Anlass genießen und begießen“, fuhr Säseg Krabbe fort, „möchte ich noch zur Aussprache des heutigen Themas kommen. Hier sind –im wesentlichen - Stärken der Diktatur heutiger Prägung zu diskutieren. Fassen Sie sich kurz.“

Eine fröhliche untersetzte Dame stand auf und las von einem Zettel ab: „Die Diktatur entlastet die Bürger von lästigen demokratischen Pflichten wie Wahlen und Rechnungsprüfungsverfahren. Die gewonnene Zeit lässt sich im Strand verbringen.“ Sie ließ sich in ihren Stuhl zurückplumpsen und Krabbe strahlte über sein ganzes feistes Gesicht. „Genau! Und die social media?“

Der Alte neben mir gab mir einen Rippenstoß und lachte: „Jetzt ich.“ Er stand auf und trug vor: „Social media eigenen sich zur Verbreitung der Verdienste und der allgemeinen Glorie unseres Diktators. Soweit dort Kontroversen ausgetragen werden, sollte sich jeder fragen, ob er sich wirklich die Zeit nehmen will, diese wirren Dinge nachzuvollziehen, ober ob er nicht lieber am Strand sein will.“

„Herrlich!“ rief Krabbe von vorne wo er seinen rechten Arm auf dem Buffettisch gelegt hatte und versuchte, sein linkes Bein lässig vor dem rechten anzuwinkeln. Dank des Umfangs seiner Gliedmaßen misslang diese Operation, oder hatte jedenfalls nicht den erwünschten optischen Effekt. „Sonst noch wer?“

Ich stand auf: „Der moderne Diktator muss die Abweichung vom Normalzustand – nämlich der Demokratie – rechtfertigen können.“ „Bist Du irre?“ zischte mein Nachbar. „Wir wollen doch an das Buffet!“ „Und Eure demokratischen Rechte?“ fragte ich zurück. „Ach quatsch nicht. Krabbe bestimmt hier gar nichts. Alle wichtigen Entscheidungen trifft der Staat Hawaii. Wir machen heimlich Briefwahl. Und jetzt mach keinen Mist, Krabbes Buffets sind legendär.“

Doch Krabbe war zu mir geeilt, was in seinem Fall zwar keine schnellen Bewegungen waren, doch wegen des Umfangs der wabernden Massen durchaus beeindruckend war. „Rechtfertigen!“ schnaufte er. „Ihre Herrschaft braucht Legitimation““, insistierte ich.

„Meine Herrschaft hat Gründe! GuteGründe!“ fauchte Krabbe. „Welche?“ fragte ich, während die Bewohner der Insel die Hände rangen und Oma Kasulke verstohlen unter das Tuch über dem Buffet griff, um wenigstens ein wenig von seinem sagenumwobenen Inhalt zu erheischen.

„GUTE Gründe. Gute!“ wiederholte Krabbe. Seine wässrigen blauen Augen schienen zu pulsieren und Speichel troff von seinen wulstigen Lippen.

„Der Mann meint es nicht so“, versuchte mein Nachbar zu schlichten. Doch das war nicht mehr möglich. Noch am gleichen Abend landeten wir sechs Touristen in Abschiebehaft und werden nun morgen in die USA überstellt. Mein Nachbar besuchte uns dort und zuckte amüsiert die Schultern: „Natürlich ist es Wahnsinn! Aber der Wahnsinn ist im Gleichgewicht. Ihr dürft nicht erwarten, dass man Euch dankt, wenn Ihr unser Gleichgewicht zerstört und dann weiterreist. Aber macht Euch keine Sorgen. Die USA haben die Personen, die wir dorthin abschieben, noch nie viel Aufmerksamkeit gewidmet.“

Dergestalt getröstet, freuen wir uns jetzt auf die USA!

Der dreizehnte Reisebericht – in der Nähe von Fort Lauderdale

 

Im August 1984 hatte Herbie McPherson festgestellt, dass die Erwartungen, die er an das Zusammenleben mit Leroy LeBig geknüpft hatte, sich nicht erfüllt hatten. Leroy war nicht die niedliche Erscheinung von einst geblieben, er war groß und fett geworden, seine Konversationsbeiträge blieben im Umfang bescheiden, viele von Herbies Freunden mieden Leroy  und – das hatte den ganzen die Krone aufgesetzt – Leroy hatte Herbies Hundedame Daisy gemeuchelt. Ob dies aus Ungeschicklichkeit oder in blinder Raserei geschehen war, ließ sich nicht mehr klären. Daraufhin hatte Herbie Leroy gepackt, ihm seine ganze Enttäuschung in Gesicht gespiehen,  ihn dann auf den Komposthaufen hinter dem Haus drapiert und ihm nie wieder auch nur einen Blick geschenkt. Dieser Trennungsakt soll uns hier nicht wegen seiner geringen Feinfühligkeit interessieren, sondern weil Leroy ein indischer Königspython war, der – mutmaßlich nachdem er den ersten Schmerz über die Trennung verwunden hatte – sich im südlichen Florida so wohl fühlte, dass er keineswegs auf den Gedanken kam, eine „Heimreise nach Indien“ zu versuchen. Tatsächlich bietet Florida einem Tigerpython so vortreffliche Lebensbedingungen an, dass man fast meinen sollte, die Natur habe ihn nur versehentlich für Südostasien vorgesehen.

Der letzte von Leroy mutmaßlich beklagte Umstand, dass Leroy nämlich der einzige Vertreter seiner Art in Florida war, wurde in den 80er Jahren von mehreren floridesischen Würgeschlangenhaltern überwunden: sie stellten ähnliche Überlegungen wie Herbie McPherson an und setzten ihrerseits große fremdländische Schlangen in Floridas Wildnis aus, nachdem sie dieselben – sicherlich überraschend – für den Hausgebrauch als ungeeignet empfunden hatten. Amerikanischer Sportsgeist muss diese Idee geleitet haben, etwa Darwins Gedanken folgend, dass ja überleben könne, wer dafür stark genug ist. Leroy und seine Artgenossen, die gewiss klangvolle Namen trugen wie „fat guy“, „bubbles“, „sneaker“, „Whitney“ oder „Serena“ hatten wenig Schwierigkeiten, diesen Wettbewerb anzunehmen und zu bestehen. Da sie einander früher oder später über den Weg schlängelten genossen sie zudem auch die Freude, ihren Triumph durch Fortpflanzung nachhaltig zu beweisen.

Ob Herbie McPherson heute zufrieden ist, keine Würgeschlange mehr in seinem Haushalt, dafür aber ein veritables Neozoon im Wäldchen hinter seinem Haus vermuten zu dürfen, habe ich ihn nicht gefragt. In Kontakt mit dem Erbe seiner Tat kam auch nicht ich selbst, sondern Oma Kasulke. Oma Kasulke saß auf einer sonnigen Parkbank vor dem „Designer Outlet Buy Inn“ am Rande von Fort Lauderdale und wartete darauf, dass Rick und Jamie aus dem gewaltigen Shop- und Hotelkombinat zurückkehrten, wo sie „für Freunde“ allerhand preisreduzierte Markenware erstehen wollten. Die vereinbarte Stunde war längst verstrichen, doch Oma Kasulke war nicht ungeduldig und es wäre auch kein Ungemach geschehen, wenn nicht Beatrice, eine Großenkelin von Leroy und Whitney, versucht hätte, so wie sie es jeden Nachmittag zu tun pflegte, sich auf den bereits von Oma Kasulke besetzten Sitzplätz zu fläzen. Oma Kasulke ist eien freundliche Frau, wenn sie aber eine Respektlosigkeit zu ihren Lasten wittert, wendet sie viel Ehrgeiz auf, dieselbe zurückzuweisen. So erhob sie sich nicht, als Beatrice auf ihren Schoß glitt und als Beatrice sacht aber fest ein Bein der Oma umwickelte zum Zeichen, dass es wirklich ihr Sitzplatz sei, würgte Oma Kasulke zärtlich aber bestimmt den mittleren Oberbauch des Tigerpythons. Beatrice war nicht in der Stimmung, einer älteren Dame den gebotenen Vortritt zu lassen und stülpte ihr geöffnetes Maul tief über den linken Arm der Oma, sodass dieser bis zur Schulter verschwand. Oma Kasulke griff daraufhin zum Schwanzende des  Python, stopfte ihn so tief wie es möglich war in ihren Schlund und bis dann kräftig zu.

So fanden Rick und Jamie die beiden als sie wenig später mit Tüten und Säcken beladen am Treffpunkt erschienen. Weder Oma Kasulke noch Beatrice machten Anstalten, von der anderen abzulassen. Oma Kasulke schüttelte nur den Kopf als Jamie vorschlug, nun doch ganz vorsichtig loszulassen und sie schüttelte dem in der Schlange steckenden linken Arm als Rick wissen wollte, ob sie ihm wenigstens die Schlüssel unseres Mietwagens geben könne. Nachdem Sandro, Lars und ich dazugeholt worden waren, hatten wir den ganzen Abend damit zugebracht, Oma und Beatrice von einander zu entwirren und hätten schwerlich mehr sagen können, wen wir nun von wem befreit hatten. Ganz sicher waren wir uns aber in einem – in unserer tiefen Abneigung gegen Herbie McPherson.

Der vierzehnte Reisebericht - auf dem Kapverden

Das Postschiff hieß „Lilly Putz“ und brachte uns von Miami nach Praia, der Hauptstadt der kapverdischen Inseln.  Im Lichte der gerade aufgehenden Sonne servierte Kapitän John Berkel seinen sechs Passagieren einen „Sunriser“, ein Ritualtypus, den er für jede mögliche Tageszeit erfunden hatte. So waren wir denn seit dem Auskaufen vor einer Woche kaum je völlig nüchtern gewesen und dieser Zustand hatte erlaubt, Zweifel an der Eignung eines proseccosüchtigen Seemannes für die Überquerung des Nordatlantiks, hintanzustellen.

„Ich glaube, ich habe einen Jetlag“, seufzte Oma Kasulke. „Der stellt sich immer ein wenn ich gegen die Erdbewegung reise.“

„Hätten Sie das gleich gesagt, wären wir in die andere Richtung gereist“, gab Jamie etwas gereizt zurück. „Das hätte uns möglicherweise auch sechs Kautionsleistungen erspart, wenn sie mit „Jetlag“ von der örtlichen Polizei aufgegriffen wurden.“

Oma Kasulke hatte aber gar nicht zugehört sondern betrachte durch das Fernrohr die wachsenden Konturen der Hauptinsel, die sich immer höher auf den Horizont stapelte.

Eine Stunde später hatte n wir unser Ziel erreicht und nachdem ein Grenzbeamter, dem das Stempelkissen eingetrocknet war, den Einreisevermerkt mit Filzstiften in unsere Pässe gezeichnet hatte, warteten wir in eine kleinen Park auf unseren Hotelier, der am Telefon nur gesagt hatte, er werde uns schon finden, wenn wir angekommen seien.

Sandro ließ sich auf eine Parkbank fallen und ächtzte zufrieden. „Fester Boden unter den Füßen istr für einen Werwolf…“ Doch weiter konnte er sein offenbares Wohlbefinden nicht beschreiben, denn ein kleiner Mann mit dunkler Haut, grüner Uniform und puterrotem Gesicht rannte auf uns zu und schrie aus vollem Halse: „Stehen Sie sofort auf! Wollen Sie denn den Kollapas herbeiführen? Aufstehen, aber schnell!“

Sandro schätzt – wie so wenige Menschen – den kurzen gebellten Befehl, doch die engagierte Eindringlichkeit des Mannes schien ihm ein wichtiges Anliegen zu transportieren und so sprang er beflissen auf, worauf das Männchen erkennbar erleichtert aufseufzte und seine Geschwindigkeit deutlich drosselte. Während wir seiner Ankunft entgegensahen, schaute ich mich vorsichtig um. Ich sah eine weitere Parkbank auf der niemand saß und noch eine dritte, die gerade von einer Frau, die auch eine grüne Uniform trug, mit einem kleinen Schwämmchen geputzt und sanft gereinigt wurde. Die liebevolle Akribie der Frau ließ mich unwillkürlich an eine Massage für das Parkmöbel denken.

Das Männchen hatte uns mittlerweise erreicht und rang nach Atem. „Aber ich bitte Sie“, keuchte es. „Das können Sie doch nicht machen!“ „Na, was denn?“ wollte Sandro wissen, doch das Männchen sah ihn nur ungläubig an. „Wissen Sie es denn nicht? Die Banken sind in großer Gefahr. Viele stehen vor dem Zusammenbruch. In Europa weiß man schon gar nicht mehr, wo man sich noch gefahrlos hinsetzten kann, so marode sind die Banken.“

„Tatsächlich?“

„Aber ja! Als wir davon erfuhren, haben wir unseren dicksten Bürgen beauftragt, die Bänke der Kapverden einem Stresstest zu unterziehen und das Ergebnis war verheerend. Die systemtragenden Banken haben geächzt und gestöhnt. Viele brachen zusammen.“

„Das ist ja furchtbar“, rief ich aus. „Wie haben denn die Menschen darauf reagiert?“

„Wir haben uns ganz diszipliniert zusammengerissen!“, sagte das Männlein mit schlecht verstecktem Stolz. „Der Ansturm auf die Bänke ist ausgeblieben. Wir haben einen Rettungsfonds eingerichtet, aus dem werden nun Lacke und Ersatzplanken finanziert.“

„Toll“, fand Oma Kasulke, „Sie retten die Banken als Gesamtgesellschaft?“

„Genau so!“, bestätigte er. „Ohne Garantien der Lack und Holzindustrie wären wir wohl nie soweit gekommen. Aber sehen Sie, wir hatten keine Wahl: Ein Zusammenbrechen schon einer einzigen Bank, hätte das Gleichgewicht unserer gesamten Gesellschaft völlig durcheinander gebracht. Wir wussten, wir müssen handeln.“

„Aber wollen jetzt nicht auch Ihre Kaffeetassen und Regenschirme auch gerettet werden?“

„Das könnte sein, aber wir werden die Büchse der Pandora wieder schließen müssen. Der Aufwand für die Rettung der Bänke wird am Ende des Tages gewaltig gewesen sein und eine erschöpfte Gesellschaft zurücklassen.“

„Wann werden die Bänke denn gerettet sein?“ fragte Sandro, der sich langsam doch einmal setzen wollte.

„Nun, das sagte ich doch gerade: am Ende des Tages, also heute um acht. Dann treffen sich alle Bewohner Hauptstadt hier im Park und sehen den Sonnenuntergang an. Die Bankenrettung ist heute Abend vollendet.“

Die Kapverden: man erkannte das Problem der Bänke, schritt mutig und entschlossen zur Tat und noch am Ende des gleichen Tages waren die Bänke wieder belastbar und in der Lage, der großen sozialen Erwartung, die an sie gestellt wird, wieder zu genügen, nämlich einer großen Anzahl von Ärschen Halt und Orientierung zu geben.

Etwas beschämt saßen wir Mitteleuropäer am gleichen Abend mit den Bewohnern von Praia auf den frisch geretteten Bänken und sahen der Sonne zu, wie sie im schwarzblauen Meer versank.

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Aus der Märkischen ModerZeitung vom 20.11.2012


Ende einer Weltreise – oder der Anfang?


Barbitz: Wenn man in Ostdeutschland eine spirituelle und gefühlige Atmosphäre erzeugen will, greift man gerne auf Kirchlieder zurück. Da aber mit den schwülstig religiösen Texten kaum jemand etwas anfangen kann, wird häufig einfach die englische Version abgespielt. Auf diese Weise wird erhabene Seligkeit erreicht, ohne dass jemand am gesungenen Wort Anstoß nehmen muss. So geschehen bei der gestrigen Feierstunde der „Auto-Bild“ zum Abschluss der von ihr ausgelobten Weltreise für sechs. Sechs Personen waren mehr als ein Jahr lang auf dem Ticket der Auto-Bild um die Welt gereist, hatten Kultur bewundert, geschaffen und – bedauerlicher Weise – auch zerstört, Meere überquert und Berge betrachtet, diplomatische Krisen ausgelöst und neue Freundschaften geschlossen. Der Rückkehr der Sechs sollte diese Feier nun gewidmet sein und auch der Umstand, dass eine empfindliche Kostenquelle nun versiegelt, war für die Redaktion der Auto-Bild erkennbar ein Grund zum Feiern. Hinderlich war nur, dass die Reisenden bis heute nicht zurückgekehrt sind. Wie Dr. Alfred Maxmann, Reiseredakteuer der Zeitung bei seiner Festansprache berichtete, sind die fünf Personen zuletzt auf dem Nordatlantik gesehen worden. Zu sechst in einer kleinen Jolle mit einem Fischernetz und mehreren Sektflaschen ausgerüstet, deutete für den spanischen Fischer José Pezcado, der sie dort antraf, nichts auf eine Notlage hin. Und so wartete man am Hafen von Cadiz vergebens auf die lustige Gesellschaft. Vielleicht gibt es ja einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden der Fünf und der mysteriösen Begegnung, die der Leuchtturmwächter von Sao Miguel auf den Azoren vor wenigen Tagen behauptet hat: Dieser wollte in der Dämmerung ein sprechendes Walross gehört haben, das gerufen habe: „Der Sonne hinterher! Die will doch schon wieder zum Horizont.“ Die Auto-Bild wäre übrigens geneigt, die Episode hiermit abzuschließen, doch verfügt die Reisegruppe noch immer über eine Kreditkarte der Zeitung, was eine Restbefassung mit dem Thema wohl erforderlich macht. Und während man als Gast jener Abschlussveranstaltung gedankenverloren sechs Freibeuter um ihre Fahrt in den Sonnenuntergang beneidet, erschallt in der Mehrzweckhalle von Barbitz scheppernd aus den Lautsprechern die „streets of London“.