Ein Sabbatjahr

Jahreswechsel 2010 / 2011

Ich hastete durch ein großes Kaufhaus am Alexanderplatz, weil ich eine S-Bahn erreichen wollte, als mein Blick auf ein Sonderangebot fiel, das meine Prioritäten kurzerhand neu zu sortieren wusste:
Es handelte sich um einen großen Korb voller Plastikweihnachtsmänner, über dem ein Schild mit der Aufschrift "Santa 9,99" prangte.
Ich drehte das Schild um, um sicher zu sein, dass sich nicht auf seiner Rückseite eine deutsche Übersetzung befand. Da dies nicht der Fall war und ich ein pflichtbewusster Mensch bin, machte ich mich auf die Suche nach einer Verkäuferin, um sie mit der Angelegenheit zu belästigen. Ich fand Sie kurz darauf:
„"Ich suche einen Kunststoffweihnachtsmann. Etwa so groß. Und wenn er auch leuchten könnte...“"
„"Ham wa im Anjebot. Steht da drüben. Wees nich, ob die leuchten...“"
„"Da drüben hatte ich schon geschaut, aber nichts gefunden."“
„"Denn kommse ma mit... Sehn Se? Janz knackige frische Weihnachtsmänner.“"
„"Das hab ich auch erst gedacht, aber da steht „Santa“. Ein „Santa“ ist doch kein Weihnachtsmann."“
„"Sieht aber doch genauso aus. Rote Jacke, Rauschebart...“"
„"Da muss man aber sehr vorsichtig sein. Ich habe mal zu Ostern meinen Vorgarten mit Sado, dem heiligen Hasen der Hindus dekoriert, weil ich dachte es wäre ein Osterhase."“
„"Na und?“"
„"Mein indischer Nachbar hat drei Monate nicht mehr mit mir gesprochen.“"
„"Nur weil Sie nen heiligen Hasen als Osterhasen dekoriert haben?“"
„"Und weil ich ihm eine Körbchen mit einem riesigen Osterei in die Pfote gedrückt hatte.“"
„"Wie niedlich!“"
„"Nein, nein, umso schlimmer. Sie müssen wissen, die Symbolsprache eines Hasen mit Ei ist unter Hindus sehr umstritten.“"
„"Ach.“"
„"Und deshalb will ich jetzt keinen falschen Weihnachsmann kaufen."“
„"Das verstehe ich natürlich.“"
„"Vielleicht weiß Ihr Vorgesetzter, was ein Santa genau ist."“
„"Gut möglich. Wenn Sie einen Moment warten wollen."“
„"Aber gern."“

Es vergehen fünf Minuten, in denen ich mich frage, ob es richtig ist, um dieses kleinen Schabernack willen, meinen Mann warten zu lassen. Als ich mir sicher war, diese Frage bejahen zu können, erschien die Verkäuferin wieder.

„"Der Bereichsleiter meint, Santa ist das amerikanische Kinderwort für Weihnachtsmann. Wir haben es zu Sicherheit noch gegoogelt.“"
„"Und?“"
„"Es ist so."“
„"Ach, wie wunderbar! Aber es ist auch verwirrend. Wieso schreiben Sie denn nicht „Weihnachtsmann dran, wenn es ein Weihnachtsmann ist?“"
„"Wissen Sie, die Artikelbezeichnungen werden ja dezentral unter Marketinggesichtspunkten hergestellt, da haben wir ja kaum Einfluss drauf.“"
„"Aber stellen Sie sich vor, der nächste Kunde zögert wieder wegen des Wortes. Wollen Sie nicht zur Sicherheit mit einem Edding das Wort Weihnachtsmann mit auf das Schild schreiben? Sie haben doch sicher eine schöne Handschrift.“"
„"Das will ich meinen! Vielleicht haben sie ja recht.“"
(Mit einem Filzstift schreibt sie hinter "Santa" die Worte "das bedeutet Weihnachtsmann" auf das Schild.)
„"So, nu iss aber alles klar."“
„"Völlig klar."“
„"Denn könnse ja einen mitnehmen."“
„"Ja, gern. Einen „Santa“ bitte. ... Oh warten Sie, ich hab doch keinen Zehner mehr. Da muss ich wohl morgen noch mal vorbeikommen. Ich danke Ihnen, Sie haben mir sehr weitergeholfen."“

Für diesen Tag war mein Werk vollbracht, so wie es jetzt für dieses Jahr vollbracht ist. Ich danke meinen Lesern für Ihre Treue und hoffe, ihnen auch im nächsten Jahr vielleicht mit dem einen oder anderen Text eine kleine Freude machen zu können.
Guten Rutsch!

Daniel Mayer-Gossing

Weihnachten 2010 

Meine alte Bekannte, von der ich versprochen hatte zu berichten, ist die Zeitschrift „Fit for Fun“. Sie läuft mir einmal im Jahr über den Weg, nämlich im Dorint Hotel auf Rügen, wo jede Suite und der Wellnessbereich mit je mehreren aktuellen Ausgaben ausgelegt sind.

Die Fit for Fun fasziniert mich, weil sie das gängige Prinzip einer Zeitschrift erfolgreich konterkariert: Eine herkömmliche Zeitung berichtet von Neuigkeiten, von denen – definitionsgemäß – zuvor noch nie berichtet wurde (z.B. Proteste gegen den Castor, Bundesregierung bei Konjunktur optimistisch, Minister auf Staatsbesuch in Land X will die Beziehungen vertiefen), Zeitschriften wiederum bedienen das Interesse an Neuigkeiten aus bestimmten Themenfeldern (z.B. neue Strickmuster für Schurwollprodukte, Geschichten aus dem Leben der Stars, die Vorzüge einer neuen Generation von Golfschlägern, usw.).

Die Fit for Fun tut das ganz offen nicht: jede Ausgabe ähnelt bis auf die Bebilderung sehr präzise der Vorausgabe. Inhaltlich werden Bauchmuskeltipps, das persönliche Training des Prominenten Y, fettarme Rezepte, Trendsport Jogging und das Hohelied des mens sana in corpore sano abgearbeitet.

Wer in diesen Beiträgen ernstlich eine Fortentwicklung der Ausführungen des Vormonates erkennen kann, befindet sich unbemerkt auf einer Rolltreppe ins Nichts.

Damit ähnelt die Zeitung eher einem erotischen Magazin, welches ebenfalls das ewig Gleiche stets neu bebildert.

Kauf und Lektüre der Fit for Fun widerspiegeln wohl eher ein bestimmtes Lebensgefühl als ein Interesse an den Inhalten. Noch so eine Gemeinsamkeit mit einem Erotikmagazin.

Alles in allem muss ein Erotikmagazin sich textlich nicht viel Mühe geben, um das Niveau der Fit for Fun zu überbieten: Das Sportlerblättchen huldigt ganz unverholen dem ästhetischen Ideal unserer braunen Vorväter von durchtrainierten, gestrengen Disziplinbolzen, die aber im Geiste der neuen Zeit ein weißes Zahnpastalächeln zeigen. Die begleitenden Sätze kommen mit Subjekt, Prädikat und Objekt bequem aus, ein bewährtes Rezept für einfache Wahrheiten.

Und warum mir diese Zeitung auf Rügen soviel Freude macht?

Weil sie auch neben der Toilette ausgelegt ist, wo man sie in Notfällen wirklich brauchen kann.

19.Dezember 2010

Als Kind war Oliver F. mein bester Freund. In der kleinen Wohnung von Familie F. gab es verschiedene Dinge, die ich von zuhause nicht kannte oder nicht haben durfte, allen voran einen Videorecorder, eine Schrankwand voller Videokassetten im Buchrückeneinband und eine Pommes-Fritteuse. Eines Tages hing der Schrankwand gegenüber eine kleines vergoldetes Geweih auf einem Holzbrettchen an der Wand. Familie F. hatte dies als Dankeschön eines österreichischen Gasthofes bekommen, bei dem sie 15 Jahre in Folge den Sommerurlaub verbracht hatte.

Als Kind war ich mächtig beeindruckt, als Teenager fand ich endlich die Größe mich über anderer Leute beständige Biederkeit heftig lustig zu machen. Heute – mit 33 – komme ich zurück von einem Rügen-Kurzurlaub, den ich letztes Jahr zur gleichen Zeit und im gleichen Hotel auch gemacht habe. Und im Jahr davor auch. Und nächstes Jahr wird auch nicht anders.

Ich lerne die leicht autistische Begeisterung für das immer Gleiche – eine Art selbst erlebtes Dinner for One: Anreise Dienstag (die Abfahrtszeit ab Berlin Gesundbrunnen habe ich im Kopf), Butterbrote für unterwegs, damit wir heute den Wellnessbereich nicht verpassen. Stopp in Stralsund, ein Kaffee in Deutschlands schlechtester (aber wärmster) Bäckerei, Ankunft im Dorint: Willkommen, Sie schon wieder!

Frühstücksbuffet mit Sekt, Spaziergang nach Sellin am ersten Tag, nach Prora am zweiten, zu Schloss Granitz am Dritten. Oder mal nach Sassnitz? Zu weit – nächstes Jahr. Ja ja.

Die Intervalle von Sektfrühstücken, Wellnessanwendungen und Zwischenschläfchen sowie erholsamem Nachtschlaf in einen fußballfeldgroßen Bett entsprechen meinen Bedürfnissen vollkommen.

Der Preis für diese neue Vorliebe ist natürlich, dass ich mich über die Familie F. nicht mehr lustig machen darf.

Doch die Belohnung wird das aufwiegen: nach dem fünften Aufenthalt im Dorint auf Rügen bekommen wir bestimmt einen ausgestopften Fisch. Und nach dem fünfzehnten vielleicht eine Schrankwand.

Bei meinem Aufenthalt auf Rügen habe ich übrigens einen alten Bekannten wiedergetroffen, dem ich in der Weihnachtswoche ein kleines Extra auf dieser Seite widmen werde. Habe ich mir jedenfalls fest vorgenommen.


12. Dezember 2010

 Es wird erzählt, dass die Einwohner von Neapel im Jahr 20 nach Christus ihren Kaiser Tiberius ehren wollten, indem sie einen Bildhauer beauftragten, eine Statue des Kaisers zu bauen und auf dem Marktplatz aufzustellen.

Eines Tages soll Tiberius dann in Neapel vorbei gekommen sein (Angela Merkel würde so etwas vermutlich eine politische Sommerreise nennen) – und offenbar korrespondierte das Antlitz der Statue wohl nicht nicht mit den Tatsachen oder jedenfalls nicht mit dem Bild, das Kaiser Tiberius sich wünschte seine Untertanen von ihm haben sollten. Wenn wir bedenken, dass die Fotografie noch nicht erfunden war, konnte eine solche Bilderpolitik ja sogar erfolgreich sein.

Jedenfalls beauftragte Kaiser Tiberius seinen Statthalter mit der Entfernung des Standbildes. Doch die braven Bürger Neapels weigerten sich, die Staue zu demontieren. Daraufhin verbot der Statthalter unter Androhen von Stockschlägen, vor dem Standbild stehen zu bleiben oder es auch nur zu beachten.

Auf diese Weise hat der Statthalter dafür gesorgt, dass die Neapolitaner der Obrigkeit bis heute nicht mehr viel Beachtung schenken.

Diese alt hergebrachte Methode bringt uns heute wegen ihrer rührenden Antiquität zum Lachen.

Zu Recht?

Mehrere amerikanische Universitäten warnen derzeit ihre Studenten davor, mit ihren eigenen Computern auf die Seiten von Wikileaks zuzugreifen. Damit disqualifiziere man sich nämlich für eine Laufbahn im öffentlichen Dienst, weil man schon bewiesen habe, dass man mit geheimen Dokumenten nicht umgehen könne. Der „Security-Check“ vor einer Einstellung würde wohl negativ ausfallen... Eine ganz unverhohlene Drohung – da waren die Stockschläge im alten Neapel vielleicht doch besser.

Aber wenn der Amerikanische öffentliche Dienst sich künftige Karrieristen wünscht, die in der Lage sind, das für jedermann Offenkundige zu ignorieren, ist der beschrittene Weg sicher der richtige!

5. Dezember 2010

Wir ziehen um. Zum vierten Mal seit 2007. Das ist ein bisschen erstaunlich, weil wir kaum etwas ekelhafter finden als umzuziehen. Aber diesmal haben wir die perfekte Wohnung gefunden und werden bleiben bis wir steinalt sind...
Also habe ich unsere jetzige Wohnung gekündigt und ein huldvolles Schreiben der Vermieter erhalten, man „akzeptiere die Kündigung zum 28.2.2011“ und weise natürlich auf den vertragsgemäßen Zustand der Wohnung hin. Nun gut.
Dann das Telefon ummelden. Eine Warteschleife: fünfzehn Minuten – „für unsere Kunden kostenfrei“. Dann meldet sich eine Stimme und ich diktiere zehn Minuten , wer ich bin, wo ich wohne, wohin ich ziehen will und welche Nummer ich behalten will (0,14 ct/min – Kosten aus Mobilnetzen können höher sein). „Wann ziehen Sie denn um?“ „Zum ersten Februar.“ Kurzes Schweigen. „Das ist ja noch total lange hin.“ „Das ist noch so lange hin, dass ich Zeit habe, Sie noch zweimal oder dreimal anzurufen, um Sie an meinen Umzugsauftrag zu erinnern und mich am 25. Januar zu beschweren, dass Sie noch nichts unternommen haben. Ich ziehe ja nicht zum ersten Mal mit Ihnen um, verstehen Sie?“
Eine Woche später hatte ich Post von Vodafone. Vier Briefe an einem Tag. Im ersten hieß es: Bla, bla, Umzugsauftrag, Vielen Dank, wir haben noch ein paar Rückfragen, bitte senden Sie uns beigefügtes Formular ausgefüllt zurück. Freiumschlag anbei. Auf dem Formular hatte ich auszufüllen, wer ich bin, wo ich wohne, wohin ich ziehe, welche Nummer ich behalten will und wann ich umziehen will.
Ich seufzte, füllte das Formular aus und öffnete den zweiten Brief: Bla, bla, Umzugsauftrag, Vielen Dank, wir haben noch ein paar Rückfragen, bitte senden Sie uns beigefügtes Formular ausgefüllt zurück.
Ich war schon nicht mehr überrascht, im dritten Brief den gleichen Inhalt zu finden und konnte mir dann schon denken, was im vierten Brief stand. Immerhin haben sie mich nicht vergessen. Anders als bei den letzten drei Umzügen.
Und gestern die Maklerin mit den Interessenten für unsere Wohnung: ich habe mich eine Stunde nett mit ihr unterhalten, was vielleicht an einer Art beruflichen Verwandtschaft liegt. Sowohl Juristen und auch Makler müssen ihren Nutzen für die Gesellschaft jeden Tag aufs Neue unter Beweis stellen sowie auch die Tatsache, dass es von Ihnen trotz bereits großer Zahl immer noch nicht genug gibt.
Ich hatte eigentlich damit geliebäugelt, meine Wohnung an eine WG aus Julian Assange und Osama Bin Laden weiterzuvermieten. Berlin im allgemeinen ist ja ein guter Ort um unterzutauchen, und unsere Wohnung im besonderen. Der Handwerker, der den Schimmel im Bad wegmachen soll, hat sie jedenfalls bis heute nicht gefunden – obwohl er die Adresse kennt. Ich hatte im Internet mit einer Videobotschaft um Assange und Bin Laden geworben, weil ich dachte, dass beiden dieses Medium vertraut ist. Die scheinen aber nur ihren eigenen Scheiß zu posten – habe jedenfalls keine Antwort bekommen. Schade, meine Hausverwaltung hätte sich gefreut: Terrorfürst und Internet-Verräter – sind zwar beides Freiberufler aber Geld haben die zweifellos.
Es haben sich trotzdem zwei Kandidaten gefunden, die sehr geeignet scheinen, obwohl sie nicht im Mindesten mit Terror zu tun haben.
Umziehen ist wirklich schrecklich!

28. November 2010

Ich wollte eigentlich erzählen, wie ich bei Kaufhof versucht habe, eine Anti-Terror-Schleuse für meinen Wohnungseingang zu kaufen, die sowohl Bomben, Messer und meine Tante Ingrid entschärfen kann (am Flughafen Tegel gibts so was - und irgendwo müssen die das ja auch gekauft haben...).

Aber dann kam Wikileaks: Amerikanisch Diplomaten finden Westerwelle eitel, arrogant und substanzarm. Merkel sei intelligent aber unispiriert, Schäuble ein zorniger alter Mann, Dirk Niebel eine Fehlbesetzung und Guttenberg ein bekannter Freund Amerikas. Haben die Diplomaten gesagt! Und die müssen es ja wissen! Sind ja Diplomaten! Skandal!

Ok, jetzt knipsen wir mal das Licht an: Wichtigtuer im diplomatischen Dienst haben sich von anderen Wichtigtuern aus der zweiten Reihe der deutschen Politik zuraunen lassen, was in der jeder Zeitung steht. Wiedergekaut wurden nicht brisante Insidernews sondern populäre Allgemeinplätze. Aber was sollen die Diplomaten auch sonst nach Washington kabeln? Wie Merkel wirklich ist? Woher sollen die das wissen. Also werten sie lieber Hintergrundgespräche aus in belanglosen Depeschen, die BESTIMMT NIEMAND gelesen hätte, wenn sie jetzt nicht veröffentlichst worden wären.

Interessant wäre dieser Tabubruch doch nur, wenn einer der Autoren zu auch nur einer einzigen originellen Einschätzung gekommen wäre. Aber das ist wohl auch von US-Außendienst zu viel verlangt.

21. November 2010

Wenn ich ein Cowboy wäre...
… würde ich breitbeinig auf meinem Pferd zum Strand reiten. Ich würde mein Zelt auf dem Sand aufstellen, unweit der tosenden Wellen. Dann würde ich mit zwei Steinen ein Feuer entfachen. Auf meiner alten Klampfe würde ein paar Takte schlagen und dann mit meinem wohlklingenden Bartion Country Road singen. In der Nähe würden mindestens zwei schöne Mädchen vor Begeisterung kreischen. Ich hätte eine selbstgedrehte Zigarette im Mund und würde einen herbeieilenden Hund Socke nennen und ihn zwischen den Ohren streicheln. Ich würde eine Dose mit Bohnen öffnen und mit einem dreckigen Besteck auslöffeln. Ich würde ins Zelt kriechen und lauter schnarchen als das Meer tosen kann. Wenn mich morgens der Ranger weckt und schimpft, weil auf dem Strand campen verboten ist, würde ich ihm nur sagen, dass er ganz locker bleiben soll und mich dann in die erfrischenden Fluten stürzen. Und dann würde ich aus dem lockeren Trab heraus auf mein Pferd springen und davonreiten, um die gleiche Show vier Kilometer südlich wieder abzuziehen.

Weil ich kein Cowboy bin...
… bin ich auf das Pferd gar nicht erst drauf gekommen und daher zu Fuß zum Strand gelaufen. Ich habe die Bedienungsanleitung für das Zelt aus der Verschweißung gezerrt und das Zelt nach zwei Stunden tatsächlich aufgebaut. Ich habe Strandgut mit industiellem Grillanzünder entfacht und dann zur Begleitung meiner Plastik-Ukulele Don't Cry For Me, Argentina gesungen. In der Nähe ist dann ein Eichhörnchen gestorben, wobei unklar blieb, ob das wegen der Dämpfe vom Grillanzünder oder wegen meines Gesangs geschah. Meine mitgebrachte Zigarette ist mir auf den nassen Sand gefallen und sie ließ sich nicht mehr entzüden. Die Dose mit Bohnen habe ich auch nicht aufbekommen. Dann musste ich mich aber schnell ins Zelt verkriechen, weil ich mich vor den herbei eilenden Hunden fürchtete. Ich war gerade eingeschlafen, da lief das Zelt voller Wasser, weil ich es unterhalb der Flutlinie aufgestellt hatte. Pitschnass habe ich noch zwei Stunden gewartet, bis der Herr vom Ordnungsamt mit meinem Strafzettel kam und bin dann in mein Hotel zurück geschlichen, um es mir endlich gemütlich zu machen.
Wenn ich ein Cowboy wäre, wäre mir mein Auftritt peinlich gewesen.

18. November 2010 EILMELDUNG

Harry Potter 7 Teil 1 läuft nicht in 3D. Dennoch mag man meinen, die Handlung sei geradenach aus der Leinwand herausgepurzelt.
In einer Art zeitgemäßen Weiterentwicklung von „Wir warten aufs Christkind“ bereitet sich DEUTSCH-SCH-SCH-LAND auf die Ankunft der Bombenmänner vor.
Die Handlung ist aber auch faszinierend: Der dunkle Emir Youssouf Al-Irgendwie hat seine Todesser mit Gruppentickets für Regionalzüge und Bombenflüchen in der Tasche auf den Weg geschickt. Drei Tage noch sollen sie brauchen, kreischt Hermine vom Spiegel, dann sind sie hier! Und Gandalf der Graue (wo kommt der plötzlich her?) murmelt etwas von auffälligen Lieferungen aus dem Mittelmeerraum (bestimmt in einer geheimnisvollen Lampe, oder einem zufällig heiligen Schrein). Daten stehen auch schon fest: der 23. und der 30. November sind im Rennen (ich bin ja für den 30! Den nennen die Überlebenden dann Eleven-sörtie! Kein Witz, ich bin dankbar für diese Daten, da nehm' ich mir für den 30. November ja nichts weiter vor!). Eine Gruppe von Vieren soll es sein, wie die vier Reiter der Apokalypse (äh... oder so ähnlich!): Remus Al-Bombo, der schielt und hinkt, Achmed Snape, der evtl. unerwartete Retter, Ibrahim Al-foy, aschblond (sehr merkwürdig für Islamisten) und natürlich die fiese Schlange Ana Conda!
Aber auch Innen- und Zaubereiminister Thomas de Dumbledore hat noch ein Ass im Ärmel: den kampferprobten Harry Schäuble, der wird den Islamisten schon was erzählen, das übt der schon seit Wochen.
Und auch die Dementoren sind nicht weit: mit blanken Maschinenpistolen in der Hand und abgebrochenem Hauptschulabschluss in der Tasche harren sie an Bahnhöfen, Flughäfen und Bordellen, um auftauchende Islamisten (und Prostituierte) entschlossen nach Askaban-Stammheim zu schleudern.
Leicht wird das natürlich nicht werden, weil die sieben mächtigsten Islamisten als Horkruxe fast unsterblich sind, nachdem sie von Al-Irgendwies abgeschittenen Zehnnägeln gegessen haben.

Das Spiel mit der Angst hat begonnen. Ich werde ein Zeichen setzen und aus Hackbraten ein Standbild von Franklin D. Roosevelt formen, von dem die unvergessenen Worte stammen:
„Das einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht an sich.“
Und während in der Ferne Remus Al-Bombo schon ruft: „We love to entertain you“, erkenne ich die Rettung unserer Gesellschaft in ihrem wichtigsten Charakterzug: Ihr Desinteresse.

Haltet stand, Kinder des Phlegma, haltet stand!

14. November 2010

Es gibt Gott sei Dank wenige Wochenenden, an denen ich mich von etwas Lustigem so weit weg fühle wie die Wüste Sahara vom Monsun.

Aber das wird vorübergehen und so erzähle ich nur vom Lustigsten, das ich letzte Woche gehört habe:

"Management by Champignon:

1. Man lässt alle im Dunkeln.

2. Man schüttet einen Eimer Mist über alle.

3. Wenn sich irgendwo ein heller Kopf zeigt, schneidet man ihn sofort ab."

Sehr komisch, ehrlich!

7. November 2010

Unlängst kam es wieder zu einer Begegnung mit einem meiner übelsten Feinde, dem unauffälligsten Ritter des Zeitgeistes. Er ist kein ganz junges Produkt weltweiter Marketingideen mehr, aber farblich und sprachlich jederzeit so kränkend, dass ihm diese kleine Erwähnung gebührt: Der Smoothie!
Die Idee ist einfach. Obst essen ist Pflicht für den stets gewissensgeplagten schwarz-grünen Polittrendsetter ebenso für den lifestylebewussten Feierabendjogger aber auch für die umsichtigen Eltern des Prenzlauer Berges, soweit diese nicht bereits in die vorgenannten Kategorien fallen.
Obst ist zwar gesundheitsfördernd, aber auch unpraktisch. Wird die Banane im schicken Handtäschchen gedrückt, wirkt sich das nachteilig auf deren Binnenklima auf, und man muss den Apfel schon kleinschneiden um ihn zuverlässig wenigstens teilweise im Mund des kleinen Wolfgang-Friedrich unterbringen zu können. Es lässt sich auch nur schwierig als lässiges Accessoir in der Funktionskleidung mit sich führen und nach 5 km im Laufen in den Mund schütten.
Die Lösung ist der Smoothie: Das beste aus der Frucht (also alles: mutmaßlich auch schadhafte Stellen und Wurmbefall) wird aus der Gefangenschaft seiner natürlichen Erscheinung befreit und dem Mixer überantwortet.
Der Genuss dieses Produktes reduziert den zeitlichen und logistischen Aufwand herkömmlichen Obstverzehrs beträchtlich, erledigt in einem Aufwasch, was sonst in mehreren Tagesetappen zu tun wäre und belastet die sonst so erfreuliche Ökobilanz des Obstverzehrs mit einem elektronischen Mixvorgang und einem Einwegplastikfläschchen.
Aber im Respekt vor dem Richtigkeitsanspruch der Gegenwart erlaube ich mir das kaum zu kritisieren.


31. Oktober 2010

Mein Vater aß zeitlebens gern Fisch und genoss es besonders, in südeuropäischen Restaurants in die Küche gebeten zu werden, dort einen Fisch aus dem Tagesfang auszusuchen und alsdann genüsslich bei einem Glas Wein das Erscheinen des Fisches auf einem Teller in landestypischer Tracht und Zubereitung abzuwarten.
Ich habe ihn nie entsetzter gesehen als 1997 in Spanien, als der erwählte Fisch gebracht wurde: Mit einem Messer in der Mitte durchgeschlagen und je hälftig in der Fritteuse zubereitet. Mein Vater pflegte keine nationalen Vorurteile – aber Spaniern traute er seit jenem Erlebnis roher Gewalt und frappierender Geringschätzung gegenüber einem adligen Lebensmittel nicht mehr so recht über den Weg.
An dieses Ereignis habe ich in den letzten Wochen häufiger denken müssen, denn auch ich habe nun die Erfahrung gemacht, dass die Suche nach guten Essendüften in Spanien erheblich schwerer fällt als etwa in Italien oder Frankreich, ja, horribile dictu, sogar in Deutschland.
Spanische Küche räumt auf mit dem Irrglauben, dass es Dinge gebe, die man nicht frittieren kann. Schweinemedallions? Na klar! Rohe Karotten? Selbstverständlich! Herrenoberhemden? Warum nicht?
Eine Wolke von Frittierfett kann in kulinarisch verzweifelten Zeiten anregend sein, legt sich aber auch wie eine Ölpest über jede zartere Blüte von Duft nach Thymian oder Provence-Kräutern. Als Liebhaber feiner Düfte befinde ich mich aus diesem Grund in einem ernsthaften Sympathiekonfilkt mit der spanischen Lebensart.
Einerseits fühle ich mich bereichert, weil ich tatsächlich nicht wusste, dass man Spaghetti in der Fritteuse zubereiten kann, aber eben auch irritiert über diesen grobschlächtigen Umgang mit Essen.
Aber die Vollständigkeit verlangt auch hiernach: Neben allerlei Frittiertem und einmal unfrittierten Pommes Frites (ein trauriges Synallagma) habe ich auch eine köstliche Zahnbrasse von Grill bekommen. Die hätte selbst meinen Vater mit Spanien versöhnt, obwohl der Brokkoli, den es dazu gab, aus der Fritteuse kam.

24. Oktober 2010

„Ätsch! Sie sind widerlegt!“ Mit diesen Worten lässt Michael Ende seinen Helden Professor Tibatong dessen Triumph über seine Kollegen zu feiern, als er allen Zweifeln zum Trotz ein Urmel gefunden hat.

Ich habe in der letzten Zeit viele Menschen darüber belehrt, dass eine Fernreise mit der Bahn nicht nur zügig und umweltschonend sondern nervenschonend und zuverlässig erlebt werden kann. Bis zum vergangenen Donnerstag bestätigte sich mein Zutrauen in die europäischen Bahnen vollständig, doch dann verkündete man uns in Madrid, dass unser gebuchter Nachtzug nach Paris ausfalle und es wegen der Streiks in Frankreich bis auf weiteres gar keine Verbindungen durch das Land gebe. Was wir nun tun sollten? Pfff, woher sollte die spanische Eisenbahn das denn wissen.

Während ich mich schon fragte, wie ich meinem Chef fernmündlich erläutern würde, dass ich eines Generalstreiks wegen meinen Spanienurlaub über die vereinbarten zwei Wochen hinaus fortsetzen müsste, schallte der Hohn der von mir Belehrten schon in meinen Ohren: „Ätsch! Sie sind widerlegt.“

Stundenlange Aufenthalte in verlassenen Bahnstationen, Fahrten in Großraumwagen bei stockdunkler Nacht in Begleitung von bärtigen Sonderlingen und betrunkenen Engländerinnen auf unbeweglichen Betonsitzen – so hatte die Vergangenheit meiner Bahnreisen häufig ausgesehen, was aber auch von meinen damaligen Reisebudget bestimmt war.

Man sieht sich immer zweimal.

Es stellte sich übrigens heraus, dass die Bahn in Frankreich keineswegs lahm gelegt war, lediglich unser spanischer Nachtzug fiel aus, weil der spanische Betreiber sich wohl nicht vorstellen konnte, dass sein Zug den Weg bis Paris zwischen streikenden Franzosen schaffen würde.


In der Zwischenzeit habe ich verpasst, dass sich in Deutschland eine halbgare Affäre um den Besuch von Angela Merkel in der Umkleide der nationalen Kicker entsponnen hat. Ein Blick auf das Bild ihres Handschlages mit Mesut Özil hat mir gleich eine Vorstellung des sich entspinnenden Gespräches vermittelt.

„Mit Hinblick auf die derzeitige Debatte um Migration darf ich Ihnen ja vielleicht sagen, dass Sie ein Beispiel für absolut gelungene Integration sind. Ich vermute, dass sich auf Ihrem Weg zu Ihrer heutigen Position vieler Skepsis erwehren mussten.“

„Vielen Dank für das Kompliment, Herr Özil. Ja, es war nicht immer leicht. Kulturell bringe ich ja doch einige Unterschiede mit...“

„Gerade auch die Sprache könnte ich mir vorstellen...“

„Wem sagen Sie das! Bis man da mal die Feinheiten raushat. Das dauert schon seine Zeit.“

„Als Frau hat man es doch sicher besonders schwer?“

„Da denken halt viele, die kann das nicht, eine Frau auch noch... Aber ich habe mich auch die anderen zu bewegt, den Integrationskurs besucht und jetzt bin ich die Kanzlerin. Hah!“


Außerdem habe ich mir überlegt, mich als Strandläufer in Spanien niederzulassen. Strandläufer sind putzige kleine Schnepfenvögel, die eine eigenartige Symbiose mit dem Meer eingehen. Sie sausen auf den Sand dorthin, wo die Wellen sich gerade zurückgezogen haben, auf der Suche nach etwas Feinem zu essen. Dann huschen sich vor der wieder herannahenden Welle davon, als hätten sie Angst nass zu werden. Nur ganz zur Not schwingen sie sich in die Lüfte und wirken im Ganzen ausgefüllt und heiter. Bei Gelegenheit werde ich mich dort wegen einer dauerhaften Anstellung vorstellen...

10. Oktober 2010 

Vor gut zwei Jahren ließen die professionellen Auguren unserer Zeit wissen, die Welt werde nie wieder die gleiche sein wie vor der Pleite des Bankhauses Lehmann Brothers. Dieser Satz war ausgesprochen mystisch und erinnert vor allem an Gandalf, den weißen Zauberer aus dem Herrn der Ringe, als er unkte: „Dinge kommen jetzt ins Rollen, die nicht aufzuhalten sein werden.“
Donner grollt im Hintergrund, und zuckende Blitze erhellten für kurze Zeit die dunkle Nacht, während ein heftiger Wind die Haare und den Bart des Helden zaust.
Auch ich habe schon Wendepunkte der Menschheitsgeschichte erlebt und erkannt, dass die Welt am nächsten Tag eine andere sein müsse: Etwa als Goldie, die zuckerkranke, fettleibige Hauskatze unserer Nachbarn meinen Hamster, der ebenfalls Goldie hieß, im juristischen Sinne heimtückisch hinmeuchelte, als Helmuth Kohl entgegen meiner jungmädchenhaften Hoffnung abgewählt wurde und als ALF kurz vor seiner Abreise ins All von den Sicherheitsbehörden gestellt wurde.
Damals musste ich lernen, dass die Welt völlig unbeeindruckt blieb, von Dingen, die meinen ohne Kosmos erschüttern konnten. Sie dreht sich ohne Goldie (den Hamster), ohne Helmuth Kohl, ohne ALF - und ohne Lehmann Brothers.
Der Bundespräsident (er hat ja Augen im Kopf) weiß, dass der Islam zu Deutschland gehört. Das gefällt manchem Hinterbänkler der CSU nicht (die haben zwar auch Augen und einen Kopf, gedacht wird aber eher mit dem Enddarm). Die SPD ist für einen neuen Bahnhof im Stuttgart, es sei denn der Zeitgeist sieht das anders. Ein Banker kann heute immer noch Geld verdienen, die Ärzte sind traurig, dass sie zu wenig Geld verdienen, die Metaller auch und die Wirtschaftsforschungsinstitute sehen Deutschland auf einem guten Weg, mahnen aber auch vor strukturell angelegten Gefahren in der Zukunft.
NICHTS von alledem ist auch nur ein kleines bisschen überraschend, die Welt ist auch nach dem Ende von Lehman Brothers die geblieben, die sie war.
Das bedeutet, ich kann mir einen kleinen Urlaub gönnen und melde mich in zwei Wochen wieder.

3. Oktober 2010

Mit einem brausenden Crescendo geht meine letzte einwöchige Fortbildung an der Bundesfinanzakademie zu Ende: Mit meinen 24 Kollegen besuche ich für zwei Tage Luxemburg und dort den Europäischen Gerichtshof.
Die Bundesfinanzakademie hatte zuvor unsere Einsatzbehörden gebeten, uns „auf die Notwendigkeit angemessener Kleidung hinzuweisen“. Die Interpretation dieser Aufforderung war indes unterschiedlich ausgefallen. Während ich persönlich eine frisch gebügelte Jeans und Sakko für angemessen hielt und eine Kollegin sich durch Umwickeln ihres engen Anzügelchens mit einer dreireihigen Perlenkette als sprechender Weihachsbaum verkleidet hatte, gewandeten sich die meisten Kollegen im Anzug oder einer vermutet damenhaften Kombination, die man in unterschiedlicher Deutung als „im strengen Grauen“ bezeichnen kann.
Da das Geschäft am Europäischen Gericht früh losgeht, versammelten wir herausgeputzten Regierungsräte der Finanzverwaltung uns noch vor sieben Uhr zum Frühstück. Mit dem Einkaufspreis des umgebenden Stoffes steigt offensichtlich bei den derart Bekleideten auch das Bedürfnis nach dem Ausleben gehobener Sitten. Jedenfalls begann mein Tischnachbar (aus Gründen, die hier nicht interessieren, nenne ich ich ihn gerne „den Minister“) sofort nach Platznehmen eine Konversation mit mir. „Also, in der Verwaltung erlebt man ja Typen. Der Pförter in meiner Behörde (…). Aber bei Büfetts weiß man ja auch nie (…) Bei meinem letzten Thailand-Urlaub habe ich Sachen gegessen (…) und die Deutsche Bahn (…).“
Meine Verzweiflung wuchs zusehends, da meine Neigung und Fähigkeit, in ziel- und wahllosem Geplapper munter mitzumischen morgens zwanglos mit „0“ zu bewerten ist und erst im Verlaufe des Tages drastisch ansteigt.
Schließlich nahm ich den verbliebenen Lachs mit den Fingern von meinem Teller, verbeugte mich leicht vor meinem Gegenüber und sprach erstmals im ganzen Satz: „Dieser Fisch dünkt mich so frisch, dass ich mich nun daran versuchen will, ihn draußen im Fluss wieder auszusetzen.“ Im Hinausgehen ergriff ich eine weitere Scheibe Weißbrot und beendete das Frühstück in der Behaglichkeit meines Luxemburger Hotelzimmers.
An Eingang des EuGH erhält der Besucher nach erfolgreicher Durchleuchtung einen Besucherausweis. Dieser ist in einer zerkratzten Fieberglashülle eingefasst und an einem speckigen Kunststofffaden um den Hals zu tragen. Ich hatte nach Anprobe dieses Ausweises Bedenken, ob seine Optik die Angemessenheit meiner Kleidung nicht unter die maßgebliche Messlatte drücken könnte und bevorzugte daher, den Ausweis – statt ihn wie eine Plastikkrawatte um den Hals zu tragen – an seiner Schnur hinter mir herzuziehen, als hätte ich mir einen dekorativen kleinen Pudel mitgebracht.
Mit Betreten des EuGH erhält jede Besuchergruppe einen „Ansprechpartner“ im schwarzen Anzug mit schwarzer Brille. Unser Ansprechpartner wies uns als erstes darauf hin, dass im Gerichtshof Essen und Trinken sowie der Toilettengang während der Verhandlungen verboten sei. Handys seien auszuschalten, nein, auch kein Flugzeugmodus. Die Verhandlung dauere sicher nicht länger als zwei Stunden.
Ähnlich herzlich habe ich mir einen Pauschalurlaub in Nordkorea vorgestellt.
Über den Rest der Veranstaltung gibt es nichts Niederträchtiges zu berichten: Es war beeindruckend!
Abschließend sprachen wir uns mehrheitlich dafür aus, das angefertigte Gruppenfoto nicht auf einer Website zum Herunterladen bereitzustellen sondern im passwortgeschützten Bereich einer dropbox einzustellen. Auf dieser Weise – so stellten wir beruhigt fest – wird niemand mit diesem mit sensiblem Persönlichkeitsrechten gespickten Bild Schindluder treiben.
Außer natürlich – jemand stellt es nach Abrufen aus der Dropbox auf seine private Homepage. Aber sowas täte ja niemand ...

Sondermeldung - 28. September 2010

Ein Zwischenbericht:
Es ist 19 Uhr und ich stehe mit vier Kollegen im strömenden Regen vor der Bundesfinanzakademie.
Daran bin ich schuld. Denn es gibt heute einen Probe-Feueralarm. Man hat uns gesagt, das betreffe uns nicht, einzig die Feuerwehr würde anrücken und ihr Vorgehen zu probe
Und ich kann mein dummes Mundwerk nicht halten und sage den Kollegen, dass ich in einem Probe-Alarm eine wahre Gefahr für mein Leib und Leben sehe und daher im Freien das Ende der Übung abwarten würde. Auf die zu erwartete Frage, warum denn dies, antworte ich, dass selbstverständlich der Probealarm die einzige Gelegenheit eines wahrhaftigen Feuers sei, mich in Gefahr zu bringen, da ich eine eventuelle Alarmsirene nur der Testsituation zuschreiben sein würde, aber kein echtes Alarmbewusstsein entfalten könnte.
Anstatt Bewunderung für diese zweifellos urkomische Pointe einzustreichen, habe ich die Kollegen leider überzeugt. Alle vier waren nun ihrerseits besorgt, dass entgegen jeder Wahrscheinlichkeit ein echtes Feuer just zu dem Zeitpunkt ausbrechen könnte, zu dem auch der Probealarm exekutiert wird.
Und so stehen wir nun draußen im Regen, klatschnass – und in Sicherheit.

In der Mittagspause habe ich folgenden Gedanken gefasst, der seither standhaft dem Vergessen trotzt: Wie nennt man einen stark geschminkten Kartoffel-Stick? Pomm-Flittchen!
Bis Sonntag dann.


26. September 2010

Der Aufenthalt an der Bundesfinanzakademie – dem Fortbildungsinternat des Bundesfinanzministeriums – ist für die neuen Regierungsräte der Steuerverwaltung so etwas wie die Grundausbildung für Wehrdienstleistende: Die Betroffenen werden in einer abgelegenen Immobilie des Bundes kaserniert und lernen in teilweise zweifelhafter Gesellschaft und von teilweise noch zweifelhafteren Ausbildern angeblich fürs Leben, trinken gemeinsam viel Bier und bilden Legenden heraus, die noch auf Jahre hinaus eigentlich inhaltsleeren Gesprächen eine aussprechbare Substanz geben werden („Ja-ha, und dann habe ich dem Bracke damals in die Augen gesehen und gesagt....!“).
Ein Unterschied ist allerdings, das die Besucher der Bundesfinanzakademie ihre eigene Dusche haben, was atmosphärisch kaum zu unterschätzen ist.

Ich bin gerade zum letzten Mal für zwei Wochen an der Akademie im beschaulichen Brühl bei Köln – oder, falls das eher bekannt ist, nahe beim Phantasialand.
Die erste Woche liegt hinter mir und ich möchte ein paar Höhepunkte protokollieren:
Dienstag, 7:07 Uhr: Ich bin früh zu Tisch gekommen, weil ich um diese Zeit noch keine Gespräche führen kann. Meine Kollegin Kirstin (gesprochen Kiehrstin – spitze Nase, volles Haar, leicht asymetrisch auf der Höhe ihrer Eulenbrille abgeschnitten) setzt sich neben mich an den Frühstückstisch. Unmittelbar nach dem Guten Morgen-Gruß sagt sie, sie habe gestern Abend noch über die Äquidistanz-These des Bundesfinanzhofes im Lichte der jüngeren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes nachgedacht. Ich verabschiede mich hastig mit der Behauptung, ich hätte meine Blutdrucktablette im Zimmer vergessen.
Dienstag, 14:57 Uhr: Während einer Vorlesung zum internationalen Steuerrecht schrecke ich aus meinem Mittagstief, als eine Kollegin aus ihrer Praxis mit den Worten berichtet: „International üblich ist die Formulierung...“ Ja, ja, wir kleinen Weltenlenker, wir!
Mittwoch, 18:04 Uhr: Habe „mir was Gutes getan“, bin „einfach mal laufen gegangen“ rund um den See bei der Akademie. Das ist kein Ausdruck meines Lebensgefühls sondern notwendig, wenn man den ganzen Tag nur isst, schläft und zuhört. Natürlich hintereinander. Habe einen Kollegen überholt, dem das sehr unangenehm war. Fühlte mich wie Herkules vom Finanzamt, wurde dann aber von einem mindestens doppelt so alten Kollegen spielend überrundet, der noch nicht einmal Schweißflecken auf seiner Funktionskleidung hatte – und wie zum Hohn in der Staubwolke, in der wer mich zurückließ auch noch angenehm duftete.
Mittwoch, 19:45 Uhr: An drei Brühler Kiosken hat man mir keine einzelne Zigarette (also nur eine - keine ganze Packung) verkauft. Einer der Verkäufer sagte mir sogar: „Eh, dat daaf isch jaa nisch!“ Ich sagte, ich hätte sie mir aber verdient, doch er zuckte nur die Achseln.
Donnerstag, 22 Uhr: „Bin ich froh, dass die Bibliothek bis elf Uhr auf hat“, sagt eine Kollegin. Als ich meine Würgehandschuhe suche, grinst sie und sagt: „Ich seh' schon, da warst Du noch nie. Da steht doch der Süßigkeitenautomat!“
Die Bundesfinanzakademie wird mir fehlen.

19. September 2010

Ich weiß unter den treuen Lesern meiner Website mehrere selbsternannte Senioren und bitte daher aufrichtig um Nachsicht für den folgenden Beitrag, den ich gänzlich episodisch und nicht als beispielhaft zu verstehen bitte. Er spielt schon wieder im Zug!

Samstag Vormittag im ICE von Berlin nach Würzburg. Der Handyquatscher ist in Hildesheim ausgestiegen (Seiner Firma geht es nicht gut, seine Frau hat einen leichten Katarrh und mit einem neuen Kredit wird es schwierig. Normalerweise werden in Zug am Handy triumphalere Themen besprochen und nach Möglichkeit eine Fremdsprachenfertigkeit bewiesen.). Meine Freude darüber währt nur kurz, denn jetzt steigt eine große Gruppe Rentner ein und mit ihr eine saure Wolke nach frisch verkostetem Sekt und in diesem Ambiente sind die älteren Damen und Herren bereit, über jeden gewollten Herrenwitz in schrilles Gelächter auszubrechen.
Doch auch sie fahren nicht weit und in Fulda steigen schließlich ein älterer Herr und seine gleichaltrige Frau zu. Mit sich schleifen sie drei große Koffer, die der Herr sogleich auf zwei freien Sitzen stapelt. Die Frau starrt angestrengt auf ihre Fahrkarte und sodann – nicht weniger angestrengt – auf die Reservierungsanzeigen über den Sitzplätzen. Ihr leuchtet die Anzeige „Würzburg-Stuttgart“ entgegen, doch in ihr Gesicht malt das Begreifen keine Spuren. Schließlich setzt sie sich ruckartig auf den äußeren Sitz des Zweiers und winkt ihrem Mann hektisch zu, er solle sich seinerseits auf den äußeren Sitz des gegenüberliegenden Zweiers platzieren. Der Blick, mit dem der Mann seiner Frau antwortet, strahlt keine Zuneigung aus – aber Gehorsamkeit. Er setzt sich. Beide haben auf diese Weise den Sitz am Fenster gegen fremde Inbesitznahme nachhaltig gesichert.
Die Frau ergreift das Faltblatt „Ihr Reiseplan“ und stopft es, ohne auch nur hineinzusehen in Ihre Handtasche.
Nur Minuten später erscheint eine junge Frau mit einem Kind vor den Sitzen, auf denen das Gepäck der beiden Senioren liegt. Sie spricht die Dame freundlich an, es handele sich um ihre Plätze, ob sie behilflich sein könne, das Gepäck in die vorgesehene Gepäckablage hinauf zu heben.
Die alte Dame starrt die Frau an und wieder scheint sie nicht zu verstehen, was man von ihr will. Schließlich, die junge Frau hat ihr Angebot mittlerweile dreimal wiederholt, sagt sie, nein, sie wolle das Gepäck nicht dort oben haben, sie würde ohnehin in Würzburg aussteigen. Die junge Frau versucht es noch ein oder zwei Mal und schließlich schiebt sie ihren Sohn auf den freien Platz neben dem alten Mann und setzt sich selbst neben dessen Gattin. Die beiden Alten machen ein Gesicht wie die Wehrmachtsführung als sie von der Landung der Alliierten in der Normandie erfuhr.
Es dauerte nun weitere fünf Minuten, da der alte Mann aus kleinen Augen beobachtete, wie ich meinen Rucksack von der Gepäckablage hob. Er muss dem Missverständnis unterlegen haben, ich wolle den Aussteigevorgang einleiten, und begann sofort, die drei Koffer von den reservierten Sitzen zunächst in den Durchgang zu heben und sie dann zu einer kleinen Mauer vor dem Ausstieg aufzuschichten. Die verbleibenden 20 Minuten bis Würzburg verbrachte er im Stehen. Auf halber Strecke reichte er seiner Frau ungebeten den Mantel an und atmete hörbar angestrengt aus, als das Kind an ihm vorbei auf den nun freigegebenen Sitz kletterte.
In Würzburg angekommen stiegen die beiden dann im Schneckentempo – aber immerhin als erste – aus dem ICE, lehnten Hilfe beim Herausreichen der Koffer mit unverständlichen Worten aber unmissverständlichen Gesten ab und ich war überzeugt, dass sie einander verdienten.
Doch womit hatten wir anderen sie verdient?


12. September 2010


Es war Freitag Nachmittag und ich war 15 Minuten früher am Bahnhof als ich hätte sein müssen. Etwas zu trinken war gekauft, etwas zu essen auch. Die große Anzeigentafel im Berliner Ostbahnhof wies meinen Zug nach Köln auf Gleis 5 aus. Ich schlenderte an Gleis 2 und 3 vorbei um alsdann Gleis 5 zu erklimmmen. Der Ostbahnhof in Berlin hat aber gar kein Gleis 5. Gleis 4 auch nicht.Auf Gleis 3 folgt Gleis 6. Etwas unlogisch in unseren wohlsortierten Gemeinwesen, aber sei's drum.
Ich hatte noch etwas Zeit und daher reihte mich in die Reihe der Wartenden vor dem Infoschalter der Deutschen Bahn, um mich zu beschweren.
Als ich schließlich an der Reihe war, entspann sich ein Gespräch, das ich wie folgt skizzieren möchte.
„Guten Tag! Der ICE nach Köln um 14:40 Uhr fährt nicht von Gleis 5. Gleis 5 gibt es gar nicht!“
„Es tut mir leid. Um 14:40 Uhr fährt überhaupt kein Zug ICE nach Köln.“
„Aber ja doch, ich meine ja den nach Koblenz. Der fährt über Köln.“
„Ach so. Ja, der fährt um 14:40 Uhr.“
„Das weiß ich doch.“
„Was kann ich denn dann für Sie tun?“
„Na, Sie schreiben doch, der Zug fährt von Gleis 5. Es gibt aber gar kein Gleis 5.“
„Nein, der ICE nach Koblenz fährt von Gleis 6 um 14:40 Uhr.“
„Ja, das weiß ich doch...“
„... aber was kann ich denn dann...“
„Es ist doch irreführend, wenn Sie sagen Gleis 5, das es aber gar nicht gibt.“
„Ich sag' doch gar nicht Gleis 5, ich sag doch Gleis 6.“
„Ja, Sie. Aber da oben auf der Anzeigetafel steht Gleis 5. Und das gibt es nicht.“
Ich strahlte. Jetzt hatte ich ihn. Jetzt würde er zugeben müssen, dass die Anzeigetafel eine offensichtliche und dreiste Fehlinformation zur Verfügung stellte. Aber ich hatte ihn unterschätzt.
„Die Tafel ist defekt!“
„Das mag ja sein, aber dann müssen Sie die Tafel außer Betrieb nehmen.“
„Nein, nein, die Tafel ist nur in geringem Umfang defekt. Sie zeigt in der zweiten Zeile von oben das Zahlenfeld nicht richtig an. Es müsste dort eine 9 zu sehen sein. Es fehlt aber ein Teil des Rundbogens des oberen Zahlenteils und daher entsteht der falsche optische Effekt einer 5.“
„Der Zug fährt aber von Gleis 6 nicht von Gleis 9. Gleis 9 ist aber doch genauso falsch wie Gleis 5.“
„Ja, es ist ein Fehler. Der liegt aber nicht an der Anzeigetafel, die ja kaputt ist. Die fehlerhafte Gleisangabe ist ein Eingabefehler der Computeranwendung.“
„Das macht es doch nicht besser.“
„Sie haben sich doch eben beschwert, dass es Gleis 5 gar nicht gibt.“
„Mir ist egal ob es Gleis 5 gibt. Aber Sie können doch nicht Gleis fünf anzeigen, wenn es ein solches hier nicht gibt.“
„Aber Gleis 9 gibt es.“
„Ja...“
„Dann haben Sie doch alles, was Sie wollten. Wir weisen ein Gleis aus, das es auch gibt.“
„... aber das falsch ist.“
„Die Kunden der Deutschen Bahn sind kritisch. Sie lassen sich nicht so leicht aufs falsche Gleis schicken.“
„Eigentlich ist es ja besser, wenn Sie ein Gleis angeben, das es nicht gibt, als ein falsches Gleis. Da merkt der Fahrgast wenigstens, dass die Angabe falsch war.“
„Aber ich bitte Sie. Dass Gleis 9 nicht richtig sein kann, merkt doch jeder Kunde sofort. Auf Gleis 9 fahren doch nur die S-Bahnen.“
„Aber...“
„Ihr ICE nach Koblenz über Köln fährt in drei drei Minuten von Gleis 6 ab.“
„Also...“
„Gute Fahrt.“
Einigen wir uns auf unentschieden.


Ein wunderbarer Tag zum Grübeln, warum man eigentlich facebook, Xing, StudiVZ und Konsorten so doof findet. Vielleicht weil die selben den Status der individuellen Idee vor langer Zeit hinter sich gelassen haben und über das Schicksal der Gründer von facebook nun sogar ein zweifellos großartiger Film in die Kinos kommt. Vielleicht auch, weil man jenseits der 30 auf natürlichem Weg immer konservativer wird und sowieso alles doof findet, was „die jungen Leute“ machen. Kann sein.
Aber bei gründlicher Überlegung fällt mir ein besserer Grund ein, selbst angelegte Datensammlungen abzulehnen: sie entzaubern unsere Welt!
Wer früher über eine andere Person nachdachte, war auf deren eigene Aussagen angewiesen oder das, was andere bereit waren über sie zu erzählen. Interessant waren vor allem die Personen, über die besonders wilde Geschichten erzählt wurden: der Vorsteher eines Finanzamtes der angeblich vor Jahren einen seiner Mitarbeiter im Tagungsraum des Personalrates eingesperrt hat, weil er sich an ein anderes Amt beworben hatte. Der Brandinspektor z.A., der angeblich bei einem Bierzeltfest die Gattin des Innensenators angerüsselt habe. Oder die einäugige Pförtnerin, die der Legende zu Folge nach einem siebenjährigen Kuraufenthalt in Davos eine schwere Depression überwunden hatte und seitdem gegen Froschschenkel allergisch ist.
Gerüchte sind dies – und jeder Mensch liebt instinktiv Gerüchte. Ihre Schönheit ist nicht das Sein sondern die Möglichkeit. Ihre Kraft ist die Fantasie (und die Lüge – zugegeben). Gerüchte machen einen Menschen zu einer teils biografischen teils fiktionalen Prosa und vollenden so sein Menschsein.
Der Geist des Internetzeitalters ist ein anderer. Wenn der Brandinspektor wirklich mit der Senatorengattin auf Tuchfühlung gegangen ist, gibt es davon Fotos bei Facebook, und wenn die Pförtnerin mit Countrysongs auftritt, kann man sich davon Kostproben auf myspace.com anhören.
Eine menschliche Internetexistenz ist keine Prosa, sondern ein beständig zu aktualisierender tabellarischer Lebenslauf.
Und warum das ganze? Einmal handelt es sich um die devote Attitüde einer ganzen Gesellschaft gegenüber einer potentiellen Beurteilungsinstanz: Wenn Google mich nicht kennt, wird mir auch ein Arbeitgeber keine Beachtung schenken.
Außerdem dürfte auch ein Missverständnis über die Bedeutung der persönlichen Angelegenheiten für den Weltenlauf vorliegen, wenn Anja83busserl auf ihrer Pinnwand postet „Hi, Alle! Sitze gerade im Elster-Café und trinke einen Tschai!“
Aber seien wir nicht zu streng: ein Irrtum über die Relevanz eigener Reflexionen bringt auch fleißige Schreiber dazu, jeden Sonntag einen kleinen Text im Internet zu veröffentlichen.

29. August 2010

Ich schmolle immer noch mit der Süddeutschen Zeitung (warum weiß ich gar nicht mehr so genau) und darum ist lustigste Nachricht seit langem an mir vorgegangen. Ich bitte um Verzeihung!

Dass die Bosse der vier großen Stromkonzerne an die Bundeskanzlerin schreiben, um sie in der Atomfrage auf den Pfad der Tugend zurückzubringen, ist nicht überraschend und – bei funktionaler Betrachtung – noch nicht mal unanständig.
Dass sie sich dabei umgeben mit dem Banker Ackermann und anderen Apologeten einer verstaubten „Leistung muss sich wieder lohnen“-Ästhetik, erstaunt auch nicht. Wie bei einem Benefizkonzert reihen sich hier gleich mehrere große Namen aneinander, um der guten Sache eine größere Kraft zu verleihen. Gewissermaßen als „Vattenfall and friends“.
Bemerkenswert ist unter den Unterzeichnern dieses „Schluss mit lustig“-Appells indes ein unerwarteter Name.
Oliver Bierhoff managt das Nationalteam im Frühsommer auf Platz drei, im Hochsommer den neuen Vertrag von Jogi Löw (mit einer drei vor dem Millionenkomma?) und im Spätsommer mit einiger Dreistigkeit den Wiederaufstieg der Atomenergie aus der Zweitklassigkeit direkt in die Herzen der Menschen. Dort hält Bierhoff – wenn man so will als nuklearer Strahlemann – gern einen Platz frei.
Dass Bierhoff etwas von Fußball versteht, sollte ich nicht bestreiten. Doch was qualifiziert ihn als Energieberater? Oliver Bierhof: Eine alternde Blaupause jedes BWL-Studenten, der früher samstags mit den Jungs kicken ging, dann aber zunächst einen Klumpfuß, unmittelbar darauf einen Bierbauch und schließlich Gott sei Dank ein Unidiplom bekam.
Aber im Gegensatz zum klassischen BWL-er – denn selbst unter denen gibt es viele seriös arbeitende Menschen – hat er bereits vor seinem 50. Lebensjahr erkannt, dass sein Name – Oliver Bierhoff heißt er – weit größer ist als der Horizont von Dingen mit denen er sich auskennt. Vielleicht hat er sich zu früh „Manager“ nennen dürfen, jedenfalls unterschreibt er nicht mehr Dinge weil sie richtig sind, sondern sie werden für ihn richtig durch seine Unterschrift.
Wenn es so einfach ist, Herr Ex-Kicker mit Uni-Abschluss, dann bitte ich Sie jetzt zur Unterschrift:
1. Wir werden 2014 Weltmeister mit Atomstrom!
2. Dank Atomstrom müssen wir nie wieder arbeiten!
3. Dank Atomstrom wird Sex besser, Essen leckerer und mein Lächeln strahlender!

22. August 2010

Eine rheinische Seele neigt –- zumal unter dem Einfluss von Alkohol –- zu einer leichten Überheblichkeit was die eigene Herkunft angeht. Mit Hinweis auf die frühe Romanisierung, Architektur von Weltruf und mittelarterlicher Glorie, fühlt sich der Rheinländer über den Rest des Volkes erhaben wie eine Angora- über die gemeine Hauskatze.
Auf die Frage, ob er denn Französisch könne, antwortet der Rheinländer gern, dass zwar nein, aber er auf Grund der Nähe zu Frankreich gewissermaßen ein halber Franzose sei. Angesprochen auf Berlin, verzieht der Rheinländer das Gesicht und erläutert, dass jede noch heute wichtige Sehenswürdigkeit Kölns bereits erbaut, oder wenigstens geplant war, bevor man sich in Berlin auch nur zu einer Stadtgründung durchringen konnte. Wie wahr, wie wahr!
Unlängst spürte ich diese Überheblichkeit in mir mal wieder, als ich durch eine Ortschaft namens Britz fuhr. Britz gibt es nicht nur Brandenburg, sondern auch als gleichnamigen Ortsteil von Neukölln. Schadenfroh durchzuckte mich der Gedanke, dass der Preuße an sich gewiss akkurat, aber nicht besonders fantasievoll war. Denn sich wiederholende geografische Bezeichnungen sind hier nicht ganz selten. Zwischen Blankenfelde im Süden von Berlin und Blankenfelde in Pankow liegen gerade mal 15 Kilometer. Auch Rixdorf, Lichtenberg und Lichterfelde sind keine Einzelbezeichnungen. In Berlin selbst gibt es nicht nur eine Oranienburger Straße, Manteuffelstraße oder gar –- der Gipfel der Selbstreferenzialität –- Berliner Straße.
Man ist verleitet anzunehmen, dass der Berliner nicht gerade seine ganze Liebe auf die fantasievolle Auswahl von Namen konzentriert, sondern dass er Orte und Straßen mehr oder weniger im Vorbeigehen danach benennt, wie se aussehn oder wo se hinführ'n. (Schon deswegen muss man den zugezogenen Eliteeltern dankbar sein für Namensgebungen wie Jonas-Maurice oder Karla-Henriette.)
Wie klangvoll dagegen der Name meiner rheinischen Heimatstadt: Lechenich! Lä-sche-nisch-sch! Abgeleitet von einem fast unleserlichen Wort auf einem altrömischen Matronenstein steht dieser Ortsname stolz und einzigartig in der Welt, einzigartig wie jede rheinische Bezeichnung sei sie Gymnich, Grevenbroich, Jünkerath oder auch Leverkusen.
Wenn uns Rheinländern heute vorgehalten wird, dass der Kölner Dom ohne preußische Hilfe immer noch so aussehen würde wie auf den mittelalterlichen Stadtansichten, also ohne Türme und Dach, dafür aber mit Kran, dann finden wir, dass die Vollendung des Doms nicht unbedingt notwendig gewesen wäre und ein Dach auf einer Kirche tief empfundener Religiosität ohnehin eher im Wege steht. Wir wissen, dass Köln und das Rheinland ihren kulturellen Höhepunkt um 1250 erreicht haben. Da Besseres nicht mehr kommen kann, wartet das Rheinland seither -– in einer leicht eschatologischen Pose –- auf das Ende der Geschichte.
Lang kann das ja nicht mehr dauern. Und um sich das Warten zu verkürzen, lacht der Rheinländer in der Zwischenzeit über die fantasielosen Namen von preußischen Dörfchen.


15. August 2010

Dass die Verwaltung nicht lustig sei, ist ein gängiges aber völlig falsches Klischee. Das liegt zum Beispiel an Einzelpersonen wie einem von mir sehr geschätzten Bremer Oberamtsrat, der sich mit seiner Fähigkeit brüstete, an den Geräuschen aus der neben seinem Büro befindlichen Damentoilette zu erkennen, wer sich dort gerade aufhalte. Übung mache schließlich den Meister.
Außerdem trat er zuverlässig jeden Tag um 12 Uhr an das Fenster seines Büros und nieste lauthals in den Innenhof des Bürogebäudes. Ob der zeitlichen Zuverlässigkeit dieses Ereignisses richteten mehrere Kollegen den Beginn ihrer Mittagspause an dem Niesen des Oberamtsrates aus.
Es wird uns Behördenmenschen gern ein leicht verklemmtes Verhältnis zu den Möglichkeiten unserer Muttersprache unterstellt. Beispielhaft werden hier Formulierungen wie „Auswandererberatungsgenehmigungsvorbehalt“, „minderemitierendes Gruppenschallereignis“ oder „Vermeidung ordnungsgefährender negativer Vorbildwirkung“ angeführt.
Doch hierin kommt gerade die ganze Zuneigung und Hinwendung des Staatsdieners zu seiner Sprache zum Ausdruck. Hier wird die ganze kindliche Freude am Versteckenspielen ausgelebt, es tanzt die Begeisterung für Worte, die man nur nüchtern oder sturzbetrunken – aber in keinem Zustand dazwischen – fehlerfrei aussprechen kann.
Wenn sich unter Deutschlands Komödianten – oder wie der Mainstream es für jeden Liebhaber schöner Worte kränkend vulgär bezeichnet: Comedians – nur wenige Beamte befinden, dann weil Humor für den Beamten nicht Beruf sondern Berufung ist. Der Beamte würde sich als beobachteter Komödiant ähnlich unwohl fühlen, wie wenn er auf einer Bühne vormachen würde, wie er atmet oder ein Glas Wasser trinkt.
Dass einzelne Beamten trotzdem nicht oft lachen, liegt vor allem daran, dass die Anlässe zum Schmunzeln so zahlreich sind, dass sie Lachmuskeln wie Schwarzeneggeer ausbilden würden, wenn sie jedes Mal lächeln wollten.
Erkennbare Heiterkeit heben wir alles uns für den Moment auf, da wir wieder Post von der vorgesetzten Behörde bekommen und der wichtigsten aller Verwaltungsanweisungen folgen: „Gelesen, gelacht, gelocht.“

8. August 2010

Ich habe mich beworben! Das ist untreu, ich weiß, Chef. Aber es gab keine Alternative, die Zeit ist reif.
Mein Bewerbungsschreiben drucke ich hier ab, zur Erläuterung und als Mahnmal meiner selbst: wenn man mich nimmt, werde ich wohl kaum noch Zeit haben, meine Leser mit niveauvollen Beiträgen zu ergötzen.

„Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, oder wie ich mich jetzt schon wage, vertrauensvoll zu formulieren: liebe Angela,

ich möchte mich um die in Ihrem Kabinett so beklagenswert vakante Position des Sonnenministers bewerben.
Die Bundesregierung hat kraft der Verfassung den Auftrag, sich um alles zu kümmern, was wichtig ist. Je wichtiger die Dinge sind, um so heftiger hat das Ringen der Regierung zu Gunsten der Sache zu sein.
Ihre Regierung legt von pflichtgemäßer Aufgabenerfüllung auf subtile Weise Zeugnis ab: Da bis zum heutigen Tage noch gar nichts gelungen ist, wird erkennbar, dass Gesundheitsfinanzierung, Gewerbesteuer und Atomenergie keinesfalls wichtige Themen sein können. Sonst hätten Sie sich ja darum gekümmert.
Es wird Zeit, dass Sie sich des einzig wichtigen Themas annehmen, dass jeden Menschen bewegt, das kein Scheitern erlaubt! Es ist dies die größte Aufgabe unserer Zivilisation: Stellen Sie sicher, dass morgen die Sonne wieder aufgeht. Ernennen Sie mich, Daniel Mayer-Gossing, 32, Gelegenheitsraucher, zum Minister für für Auf-, Unter- und Wiederaufgang des Leitgestirns, kurz, den Sonnenminister.
Wägen Sie ab, ob Sie mir ins Gesicht sagen, dass Sie meine Hilfe nicht brauchen. Lesen Sie die Zeitung: rot-grüne Minderheitsregierung in NRW, im Jahr 2050 mehr Briten als Deutsche, von der Leyen als kommende Kanzlerin gehandelt.
Diese Zeiten verlangen nach Sicherheit in der einen Frage, die ich mir gestatte zu wiederholen: „Geht morgen die Sonne wieder auf?“

Ich biete Ihnen einen fehlerlosen Auftritt als Minister an: Zwischen ihrem Auf- und ihrem Untergang lasse ich die Sonne keine Sekunde aus den Augen und wenn sie untergegangen ist, können Sie sicher sein, dass sie wieder aufgehen wird, denn die Sonne weiß, dass sie mich genauso braucht wie ich sie. Ich bin ein Kind der Sonne, schon meinethalben wird sie morgen wieder aufgehen.

Ich werde schwören, meiner Aufgabe gewissenhaft und mit hohem Lichtschutzfaktor gerecht zu werden. Anders als Ikarus werde ich ihr nie zu nahe kommen, mich nie über sie erheben und Sie Frau Bundeskanzlerin werden mich nicht mit versengten Flügeln in Griechenland begraben müssen. Bei Westerwelle können Sie da nicht so sicher sein.

Gern besuche ich Sie zu einem persönlichen Kennenlernen im Kanlerinnenamt.

Es grüßt Sie in erhabener Vorfreude

Mayer-Gossing, Sonnenminister in spe“.

1. August 2010

 Kaffee mit Lebkuchengeschmack?

Danke, koste ich gern.

Pfui, Teufel. Das hätte ich doch ahnen müssen.

Wo kommt diese fantastische Kreation her?

Amerika! War irgendwie klar.

Ich bin heute anmaßend: Die Faszination für artfremd aromatisierte Geschmacksträger ist ein trauriger, abgeschmackter Ersatz für eigene Fantasie – auf der Basis von Glutamat und anderen naturähnlichen Geschmacksstoffen.

Chips mit Erdbeergeschmack, Wein mit Schokoladenabgang und jetzt Kaffee mit Lebkuchengeschmack.

Sicher kann man sich bei dieser Kombinationsästhetik nur darüber sein, dass die Zutaten nicht einmal entfernt verwandt sind mit den namensgebenden Einzelteilen.

In meiner grenzenlosen Bosheit bin ich außerdem der Meinung, dass nach Kaffee mit Lebkuchen nur dürsten kann, wer stets nur den billigsten Kaffee einkauft, dessen Geschmack zwangsläufig nach wenigen Tassen nur noch fad und deprimierend ist, sodass der betrübte Konsument sich überlegen muss: Was kann ich hier noch reinschütten, damit das nach was schmeckt?

Um es klar zu sagen: In eine Tomatensoße gehören: Olivenöl, Salz, Pfeffer, Oregano und geschälte Tomaten. Sonst nichts!

Doch wen man nicht besiegen kann, den soll man sich zum Freunde machen: Künftig produziere ich Kopfkissen mit Mangoaroma („Kissenchutney“) und Straßenbahnen, die nach Zimt duften!

25. Juli 2010

Die Komik dieser Woche hat sich eher an MIR abgearbeitet, als dass sie mir umgekehrt die Chance dazu gegeben habe.
So habe ich mich am Mittwoch beim Mittagessen im Kreise meiner Kollegen ungünstig über ein Essen mit der programmatischen Bezeichnung „Tote Oma“ ausgelassen.
Dabei handelt es sich um eine pürierte Blutwurst mit Kartoffelbrei und Soße. Die Optik dieser Speise weckt die unvorteilhaftesten Assoziationen und mir würde es kaum gelungen, einen Bissen davon in dem Mund zu stecken ohne mich dabei über das Groteske der Situation totzulachen oder mich alternativ zu übergeben.
In diesem Sinne äußerte ich mich nun also und bemerkte erst in diesem Moment, dass ein überdies besonders geschätzter Kollege genau dieses Gericht auf seinem Teller hatte und dessen Bissen genussvoll zum Munde führte.
Ich hatte mich meiner Taktlosigkeit noch nicht zu Ende geschämt als ich mich gegen Lernerfolge hartnäckig verweigerte und ein hörbar ironisch über den Schick von Wildlederslippern am „gutgekleideten Mann von heute“ mokierte.
Als wir von der Tafel aufstanden, wurde ich zum zweiten Mal rot wie eine Wassermelonde auf dem Debütantinnenball, denn erst jetzt sah ich vier Paar Wildlederslipper an den Füßen eines von Kollegen. Das scheußliche Schuhwerk trug ein hämisches Grinsen auf den Lippen als ergötze es sich köstlich an meiner unfehlbaren Taktlosigkeit.
Den Rest der Woche habe ich wesentlichen schweigend verbracht, denn: „Finde heraus, was Du nicht gut kannst! Und dann lass es bleiben.“

11. / 18. Juli 2010

Es war der 10. Juli und das Thermometer zeigte schon morgens ohne rot zu werden über 30 Grad Hitze an.
Grob geschätzt 20 Millionen Berliner reagierten spontan und setzten sich in ihre glutofenheißen Autos und brachen auf zur Ostseeküste.
Ebenfalls an diesem 10. Juli feierten die Einwohner der Stadt Wolgast das Wahrzeichen ihrer Stadt – nämlich eine von zwei Brücken auf die Insel Usedom – thematisch passend mit einem Brückenfest.
Und während nun in Trachten gekleidete Wolgasterinnen und Wolgaster auf der zu diesem Zweck gesperrten Brücke tanzend ihrer Folklore fröhnten, reihten sich die Millionen Berliner – ausgestattet mit unterschiedlichen Potenzialen an Geduld hinter der Brücke und steigerten in gemeinsamen Gesprächen ihre Vorfreude auf das kühle Ostseewasser und das bequeme Hotelzimmer.
Gerüchten zufolge soll für das kommende Brückenfest von Wolgast nun eine Kalenderkommission mit der Bestimmung des letztgültig optimalen Termins beauftragt werden, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass die tourismusstrategische Meisterleistung dieses Jahres sogar noch übertroffen werden kann.
Ich indes schlug mich über Waldwege, die ich nur dank des Zuspruchs eines höflichen Navigationssystems als öffentliche Straßen anzusehen wagte, zur zweiten Brücke nach Usedom durch, die am 10. Juli nicht gefeiert wurde.
Nach einem schnellen Check-in breiteten sich vor uns das weite Blau der Ostsee und auf dem goldenen Sand eine Legion bronzefarbener Walrösser aus. Bei näherem Hinsehen handelte es sich jedoch vor allem um die Reste des traditionsreichen Teils des ostdeutschen Freiheitsstrebens, denn die Walrössern entpuppten sich nicht als geschützte Arten sondern als ungleich weniger seltene aber dafür unbekleidete Mitbürger.
Die textile Ungezwungenheit findet ihre Entsprechung im Miteinander nur teilweise. Ein Blick auf die Nackten wird ebenso wenig goutiert wie die Benutzung des Teleobjektivs auf einem Fotoapparat, welches man aufgeschraubt hatte, um einen Seehund zu fotografieren, der sich jedoch als die – unbekleidete und im Wasser extrem wendige – Oma Knolle herausstellte.
Auffällig war das proporzionale Verhältnis zwischen äußerlicher Attraktivität und der von der verwendeten Badekleidung gewährleisteten Abdeckfläche – ebenso wie meine kleinbürgerliche Unfähigkeit, diesen Umstand zu übersehen.
Um ein Haar hätte ich eine Dame, die das Überleben eines Pygmäenstammes im Winter hätte garantieren können, darauf angesprochen, dass entweder sie sich etwas überziehen, oder ich woanders hinsehen müsse. Gerade noch rechtzeitig fiel mir ein, wie sie diesen Konflikt mutmaßlich aufgelöst hätte und so schwieg ich und summte: „Wenn Du ein Spiegel meiner Zukunft bist, dann will ich’s so genau nicht wissen.“
Meine fast schon rassistische Abneigung gegen die Nacktbader erhielt jedoch ernstliche Risse – und dies nicht etwa, weil mich mein aufgeklärter Intellekt in die Schranken gewiesen hätte. Nein, ich habe begonnen mein Herz für die Nackten zu öffnen, weil von der 15 Badegästen, die die von mir entworfene und errichtete Sandburg unaufgefordert als ästhetisch herausragend lobten, stolze 14 höchstens eine Stoffmütze auf dem Kopf trugen.
Ja, ich bin käuflich.
Nein, im Dienst nicht!

4. Juli 2010

Wenn Horst Köhler seinen Rücktritt so verkündet hätte, wie er sein Amt ausgefüllt hat, dann hätte vermutlich bis heute niemand gemerkt, dass wir keinen Bundespräsidenten mehr hatten.
Vielleicht hätten ein paar in der Sommerhitze schwitzende Deutsche sich gefragt: "Wo ist denn der Köhler eigentlich? Na, wahrscheinlich in Afrika." und ein paar Afrikaner hätten überlegt "Kommt der Köhler nicht mal wieder vorbei?".
Der neue Bundespräident hätte dann nicht in seiner Antrittsrede den scheidenden Ministerpräsidenten von Niedersachsen für dessen Integrationspolitik gelobt, sondern dann wäre der neue Bundespräsident immer noch der Ministerpräsident von Niedersachsen.
Joachim Gauck hätte dann auch nicht in freier Rede festgestellt, dass seine Kandidatur viele Menschen für die Demokratie zurückgewinnt (er hat ja nicht gesagt, "für die deutsche").
Die Linkspartei hätte ihr Reservoir an alternden Merkwürdigkeiten als Präsidentenkandidatinnen noch nicht ausgeschöpft (der Kandidatur von Uta Ranke-Heinemann folgte Luc Jochimson, da Inge Meisel definitiv tot ist) und müsste jetzt nicht hoffen, 2020 eine senil gewordene Angela Merkel ins Rennen schicken zu können.
Und - a propos- Angela Merkel müsste auch nicht so tun, als wäre das erste, was ihre Regierung mit Ach und Krach hinbekommen hat (nämlich Wulff ins Kanzleramt zu hieven) schon immer ihr Herzenswunsch gewesen sei.
So wäre das also gewesen, wenn nicht zufällig das Fernsehen Wind von Köhlers Rücktrittsabsicht bekommen hätte.
Aber dieser Umstand ist wahrlich nicht an allem Übeln schuld:
Kurt Beck hätte in jedem Fall gesagt, er sei  "einfach näher dran am Menschen" - was man im Interesse der potenziell betroffenen Menschen nun wirklich nicht hoffen will.
Seine Herausforderin Julia Klöckner hätte darauf in jedem Fall geantwortet, sie selbst sei ebenfalls  "durchaus geländegängig". Diese Formulierung stimuliert das schon von Beck regelmäßig angesprochene Gespür für Fremdschämen in besonderem Maße, lässt aber hoffen für die CDU in Rheinland-Pfalz: Wenn Frau Klöckner Recht hat, kann die Partei sie nach ihrem absehbaren Scheitern als Spitzenkandidatin wenigstens als Weinbergjeep weiterverwenden.

27. Juni 2010

Die betriebliche Sicherheit ist ein hohes Gut und es leuchtet ein, dass auch und gerade die Bediensteten der Finanzverwaltung Gefahren ausgesetzt sind, die jeder Beschreibung spotten.
Aus diesem Grunde fand sich unlängst ein Sicherheitsingenieur in meinem Finanzamt ein, der die undankbare Aufgabe hatte, vor etwa 200 im großen Hofsaal unwillig schwitzenden Beamten einige fruchtreiche Erläuterungen zur Arbeitssicherheit zu erteilen.
Auf den Hinweis, dass defekte Elektroleitungen nicht mit Isolierband oder Mullbinden wieder in Stand zu setzen seien, sondern vorschriftsgemäß zu melden, waren die ersten Kollegen schon peinlich berührt.
Als der Vorträger dann darauf hinwies, dass die Haltung vom Raubtieren im Büro nur dann den Vorgaben der Sicherheit entspreche, wenn dem Wildtier genügend rohes Fleisch zu Verfügung stehe und viele Amtsleiter bereits drüber nachdachten diese Haltung ganz zu untersagen, sprang ein Kollegin mit erstickten Schrei auf und hastete ihrem Büro entgegen - zweifellos um ihren gescheckten Schabrackenleguan Bi-Bob vor den Angriffen der Sicherheitskamarilla zu schützen.
Der Sicherheitsingenieur empfahl dann noch, keine Werkzeugkisten in Laufwegen stehen zu lassen, da in Akten vertiefte Beamte darüber stürzen können und bat auch darum, dass zu reinigende Bodenflächen mit einem Hinweisschild mit der Aufschrift "nass" versehen werden sollten.
Seitdem bin ich in ernster Sorge um die in Akten vertieften Beamten, die künftig zwar nicht mehr über Werkzeugkisten stürzen, wohl aber über Hinweisschilder mit der Aufschrift "Nass". Ich erwäge, den Flur mit einer Beschallungsanlage schützen zu lassen, die vor den diesen Hinweisschildern warnt.
Außerdem habe ich noch die Idee, derzeit nicht geputzte Flure mit dem Schild "Trocken" zu versehen, um zu verhindern, dass meine nun für das Problem sensibilisierten Kollegen, sich aus Furcht vor Nässe nur noch vorsichtig tapsend über die Flure bewegen.
Und an meine Bürotür muss endlich das Warnschild: "Vorsicht! Bissiger Leopard!"

20. Juni 2010


Mein innerer Schweinehund hat relativ schwere Zeiten hinter sich. Wenn er Dienstags Abends faul vor dem Fernseher sitzen bleiben wollte, habe ich ihn noch zum Gassigehen gezwungen (einmal die Woche Badminton), wenn er sich sabbernd auf ein Brunch-Buffet stürzen wollte, habe ich mir mit ihm einen Frühlingssalat geteilt (nie mehr 81 Kilo!) und wenn er das letzte Einhorn am liebsten durch Wälder und Auen gehetzt hätte, habe ich es zum netten Gespräch gebeten (berufliche Kontakte sind wichtig!).

Aber das ist Vergangenheit.

Bei der Lektüre des Bundestierschutzgesetzes habe ich mit Schrecken festgestellt, dass mein innerer Schweinehund eine artgerechte Haltung verdient.

Ich werde mir nun Gedanken machen müssen, wie ich seinen Bedürfnissen wenigstens im Mindestmaß gerecht werden kann.

Aber schlimmer noch: die Dame vom Tierschutzamt, das ich wegen meiner Zweifel anrief, sagte mir, dass der innere Schweinehund eventuelle sogar eine vom Aussterben bedrohte Spezies ist. Der Trend zum Life-Style-Joggen („Ich geh’ jetzt mal laufen.“) und Arbeiten bis in den Abend hinein („Leistung muss sich wieder lohnen“, „sich beruflich verwirklichen“) habe der Spezies innerer Schweinehund einige herbe Schläge verpasst. Noch sei nicht zuverlässig absehbar, ob die Population überhaupt noch zur nachhaltigen Nachzucht und Wiederauswilderung in der Lage sei.

Internationale Schutzkonventionen seien derzeit noch nicht verabschiedet, weil die USA und Großbritannien ohne weitere Forschungen den Tatbestand der Gefährdung der Spezies nicht für glaubhaft und die Japaner die Spezies ohnedies nicht für schützenswert halten.

Rein vorsorglich, so riet mir die Dame, sollte ich rund um die Uhr gewährleisten, dass mein innerer Schweinehund sich so wohl fühle, wie eine Spezies auf Gottes Grüner Erde sich nur fühlen kann.

Nun denn: ich werde mich dem stellen. Fürs Volk, fürs Vaterland und die Artenvielfalt.


13. Juni 2010

Unlängst träumte mir von einer kurzen Zwiesprache mit den Helden meiner Kindheit: dem kleinen blauen Elefanten, Alf und Steffi Graf.

Ich: Na, wie ist es Euch denn so ergangen?
Steffi: Den Beruf an den Nagel gehängt, schwanger geworden und geheiratet. War ja schon immer der bodenständige Typ.
Alf: Neue Rollen habe ich nicht mehr gekriegt, nun noch so'n Spin off. Und irgendwie dachte ich, ich muss mal was ganz anderes machen und bin den Jakobsweg gepilgert. Hab auch n Buch drüber geschrieben.
Elefant: Ich dachte immer, wenn die Maus mal alt ist, bin ich natürlich der Nachfolger – aber jetzt reden alle nur noch von dieser gelben Ente.
Ich: Das ist Wolfgang Schäuble mit Angela Merkel auch passiert.
Elefant: Ich sprech' doch vom wahren Leben... Im Ernst, ich wär ja gerne Bundespräsident geworden.
Steffi: Jup.
Alf: Ich auch!
Ich: Na und? Wer wird's?
Elefant: Die CDU wollte mich nicht - die wollten lieber die billige Kopie als das kluge Original. Außerdem habe ich in meiner Jungend mal im Fernsehen Kissen zerrissen: das hat die CDU wohl als Appell für die Frauenbewegung verstanden.
Steffi: Ich hätte es in Teilzeit ja noch gemacht, aber die meinten, damit hätten sie gerade schlechte Erfahrungen gemacht.
Alf: Die SPD hat gedacht, ich wäre Horst Köhler und hätte mich einfach eine Woche nicht rasiert. Die haben mir gar nicht zugehört...
Ich: Steffi, hat Du eigentlich noch die ganzen Pokale von früher?
Steffi: In der Wimbledon-Schale, koch ich Spaghetti, weiß man ja. Den Pokal der US-Open hat Jaden Gil früher als Töpfchen benutzt - den kriegte man da ja gar nicht mehr runter. Aber man hat mir dann gesagt, das geht so nicht - sonst müsste ich ihn zurückgeben.
Ich: Und Du, Alf? Isst Du noch Katzen?
Alf: Der Trend geht ja zur diätetischen Ernährung: ich esse nur noch schlanke Katzen: Typ Cat Moss! Haaaaaaaaaaaaaaaaaaaahhahaha-ha - ich lach mich tot.
Ich: Ich bin ja ein bisschen nostalgisch, wenn ich Euch hier so sehe. Geht Euch das auch so?
Elefant: Eigentlich nicht, ich kenn Dich ja gar nicht.
Steffi: Na ja, nostalgisch... Ich tauche ja in den Träumen von sehr vielen Leuten auf, ich kenn das also. Übrigens danke, dass ich was anhabe.
Alf: Was machst Du eigentlich heute so?
Ich: Ich arbeite beim Staat (Alf springt auf und läuft davon), bei der Finanzverwaltung (Steffi Graf bricht sofort in Tränen aus) und zahle keine GEZ-Gebühr, weil ich keinen Fernseher habe (der Elefant löst sich in Schneehintergrund auf).

Ich muss jetzt wohl ohne Helden auskommen - oder mir neue suchen: Bewerbungen unter oben genannter Emailadresse!

6. Juni 2010

Als am vergangenen Montag Bundespräsident Horst Köhler mehr erhofft als erwartet seinen sofortigen Rücktritt erklärte, war das journalistische Berlin sehr verärgert. Nach dem politischen Terminkalender hätte die Diskussion um einen Nachfolger vom Sommer 2012 bis Sommer 2014 dauern sollen und wäre in eben dieser Zeit auch für Berichte, Spekulationen und Geraune in gut informierten Hintergrundgespächen gut gewesen. Nun muss dieser gehaltvolle Vorgang in ganzen 30 Tagen erledigt werden: aus Sicht des politischen Beobachters eine reine Verschwendung.
Ich habe jedenfalls sofort reagiert und mit einer Taskforce aus politischen Experten berufen(der Mann, der mein Büro putzt, der Vietnamesische Sushi-Lieferant und Prof. Jürgen Falter, der zufällig vorüber kam) um mögliche Kandidaturen zu erörtern.
Einige Kandidaten erschienen auf den ersten Blick aussichtsreich, mussten dann aber wieder verworfen werden:
Roland Koch (integrativ – hat aber kurz vorher schon wo anders zugesagt)
Alf (zu lange raus aus dem Geschäft),
dieser Sparkassendirektor, der immer so erschrocken aussieht (zu leicht beleidigt – und Prof. Falter meinte, der war auch irgendwann schon mal Präsident. Na, das geht ja nicht)
Roberto Blanco (bedient die Bedürfnisse von Minderheiten, spricht aber keine Sprache fließend),
das letzte lebende Golden Girl (Betty White ist leider nicht Deutsche)
Lena Leier-Lindwurm (zu jung!)
und Gustl Bayerhammer (wäre perfekt, ist aber schon gestorben).
Nach einigem Nachdenken erkannten wir schließlich übereinstimmend in dem kleinen blauen Elefanten aus der Sendung mit der Maus den vollkommenen Präsidenten (sympatisch, blau, sagt nie was Dummes, zeitlos, in seinem Leben gibt es nur zwei Frauen, die Maus und die Ente - also eine echte Idetifikationsfigur.)
Zeitgleich muss Angela Merkel, 55, Bundeskanzlerin, im Kanzleramt auf den gleichen Gedanken gekommen sein, denn am Abend präsentierte sie der Nation Christian Wulff, den anständigen, freundlichen, knuddeligen, Lena-begrüßenden, niedersächsischen Staubsaugervertretenministerpräsidenten als künftiges Staatsoberhaupt. Warum sie gleichzeitig auch noch Horst Seehofer und Guido Westerwelle vor die Kameras mitgebracht hatte, ist nur Insidern des Politgeschäftes bekannt. Angeblich wollte sie auch für diese beiden Herren bei gleicher Gelegenheit neue Jobs klarmachen, doch weder hatte der Kastraten-Chor der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft Interesse an einem neuen Chorleiter Westerwelle, noch war Seehofer zu bewegen, eine neue Ausgabe von Gaudimax auf RTL II aus Chefmoderator zu übernehmen. Na ja, nächstes Mal vielleicht.
Die arme CDU: Wo sie früher mit weltkriegserfahrenen silberhaarigen Adligen, einmal verheiratet und dann dabei geblieben, als Präsidentenmacherin Ehre einlegen konnte, muss sie heute jemanden als den besten in ihren Reihen erkennen, der NETT ist, Ehebruch begangen hat, und nur wenig gegen Schwule und Ausländer hat.
Merkel, Seehofer und Westerwelle mögen sich in so einem ja wiedererkennen, aber wo bleibt da der normale Unionsanhänger?
Der schaut jetzt jeden Tag die Sendung mit der Maus. Ob er will oder nicht!

30. Mai 2010

Schon die Beengtheit der Gemeinschaft in einem Zugabteil oder die nur durch Pressholzwände getrennten Anprobekabinen eines Kaufhauses gehen weit über mein Bedürfnis nach Intimität mit mir nicht weiter bekannten Personen hinaus.
Daher graut mir heute schon vor der sich abzeichnenden Zwangskumpanei, die ein großes Fußballturnier unweigerlich mit sich bringt.
Aus entgrenzen Autofahrern, langmähnigen Baumarkt-Brokern, Unterschriften sammlenden Vorstadt-Sheriffs, klimakteriumsgeplagten Sonnenstudiobesucherinnen und MIR werden wieder WIR!
Aus zwanzig jungen Männern mit dicken Oberschenkeln und noch dickeren Brieftaschen werden UNSERE JUNGS oder wahlweise auch WIR.
Wer Distanz zwischen sich und das Gesamtkunstwerk WIR bringen will, mietet sich ab sofort bis Ende Juli in ein mongolisches Kloster ein – aber weil meine Chefin dem mutmaßlich nicht mit Verständnis begegnen wird, muss auch ich mich stellen und wage einen schüchternen Ausblick auf das immer Ähnliche – fest entschlossen, mich trotz allem überraschen zu lassen.
Wir werden diskutieren: Ob die Infrastruktur und Organisation der letzten WM (ja, die in Deutschland) nicht viel besser waren? Ob man anhand der Sicherheitslage die WM wirklich nach Südafrika hätte vergeben dürfen? Ob das Wetter nicht unwürdig für eine WM sei? Ob unsere Jungs auch SICHER sind in diesem Land? Dass die Leistungen in der Vorrunde steigerungswürdig sind. Dass Michael Ballacks Schuhe doch noch eine Nummer zu groß waren für Bastian Schweinsteiger. Wer von den drei Vereinsversagern Klose/Gomez/Podolski eine akzeptable WM spielen wird. Ob Löw Bundestrainer bleiben kann, wenn WIR vor dem Viertelfinale ausscheiden. Dass Löw Bundestrainer bleiben sollte, weil WIR das Halbfinale erreichen. Dass die Fanmeilen nicht mehr so bevölkert sind wie vor vier Jahren. Dass WIR zu geizig waren, neue Autofähnchen für 2010 zu kaufen und die alten mittlerweile so ausgebleicht sind, dass sie auch eine Anfeuerung für Bulgarien sein könnten. Dass diese Diskussionen über das Nationalgefühl doch nun wirklich überholt seien (ein ganz natürliches Schamgefühl, wie wenn man sich zum zweiten Mal in der Sauna trifft.)
Es wird also alles so sein wie immer.
Aber es bleiben auch einige Rollen unbesetzt: Weil Jens Lehmann nicht dabei ist, wird sich niemand wider die ästhetische Vernunft beständig unbekleidet vor der Kamera der Teambegleiter zeigen. Weil Michael Ballack nicht dabei ist, wird niemand in der Rolle des grollenden Sachsen täglich unwirsch und beleidigt sein und Oliver Bierhof wird vielleicht trotz des südafrikanischen Winters ein bisschen braun werden. Und schließlich ist auch Christoph Metzelder nicht dabei – daher wird das Team ohne BWL-Studenten auskommen müssen und auch keinen Lehrbeauftragten für die Küchenphilosophie des Nationalen beschäftigen.
Ok, ein bisschen freue ich mich ja darauf!

23./24. Mai 2010

Ich mache mir ja manchmal Sorgen um unsere Politik. Kommt sie wirklich dauerhaft ohne meinen Rat aus?
Da ist der Außenminister, der sich überhaupt nicht erklären kann, warum ihn niemand mag – nicht einmal die Leute, die schon bereit waren, Charismatiker wie Joachim von Ribbentrop oder Margot Honecker zu mögen.
Vor zwei Wochen war Westerwelles Problem so nackt und bloß zu erkennen, als wäre er ohne Hose ins TV-Studio gekommen und hätte dies als einziger nicht gemerkt:
Auf die Frage eines Journalisten, ob das Ergebnis der NRW-Wahl nicht vor allem die Schuld von Westerwelle sei, antwortete dieser, Schuldzuweisungen seien nicht das Gebot der Stunde. Man gewinne Wahlen zusammen und – man stehe auch zusammen, wenn man seine Ziele nicht erreiche.
Oha! Zu Westerwelles Stärken gehörte immer eine kraftvolle und auch ästhetische Rhetorik. Wenn dieser begabte Rhetor mit einer solchermaßen verquasten Formulierung, das Eingeständnis verwehrt, dass ER EINE WAHL VERLOREN hat, sind die menschlichen Defizite dieser Persönlichkeit für alle mit Händen zu greifen.
Oder Hannelore Kraft und Jürgen Rüttgers – die künftigen Mr und Mrs Smith von Düsseldorf: Da kündigte Frau Kraft vorgestern an, nun die CDU zu Gesprächen über eine gemeinsame Regierung einzuladen – und Herr Rüttgers ließ umgehend wissen, er freue sich, dass die SPD sein Gesprächsangebot angenommen habe.
Nun mag es sein, dass hier nur wieder zwei Personen schon verbal einfach nicht von ihrem Führungsanspruch lassen konnten. Andererseits kann es sich auch um ein veritables Missverständnis handeln: Vielleicht wird Frau Kraft nächste Woche erfolglos darauf warten, dass Rüttgers mit Blumen in der Hand an ihrer Türe klingelt, während zweitgleich Rüttgers traurig seufzt, weil Kraft noch immer nicht mit den ersehnten Pralinen und einer Dose Hundefutter als Gastgeschenk angeklopft hat.
Da sollte man doch noch mal Klärung herbeiführen.
Und überhaupt: rot-rot-grün in NRW gibt es jetzt also nicht. Die Linke war zwar bereit, zu unterschreiben, dass „die DDR keine Demokratie war“, aber die anderen programmatischen Schwerpunkte einer künftigen Regierungsarbeit waren leider nicht konsensfähig.
So laufen also Sondierungsgespräche zur Regierungsbildung ab: die Partner legen sich gegenseitig Kärtchen mit einfachen Hautsätzen zur Festlegung endgültiger Wahrheiten vor und wenn zum guten Schluss genügend davon abgesegnet sind, kann man gemeinsam regieren.
Oh, du liebe Fantasie! Was werden die rot-rot-grünen nur alles gemeinsam unterschrieben haben? „Kaiser Wilhelm war böse.“ „Der andere Kaiser Wilhelm auch!“ „Oskar Lafontaine hat Mundgeruch.“ „Helmut Kohl fühlt sich wohl mit Atomstrom.“
Und dann, nach all dieser profunden Gemeinsamkeit kam das Scheitern:
„Steinkohle ist die Zukunft.“ (Das wollte niemand unterschreiben, es blieb auch unklar, wer den Text eigentlich vorgelegt hatte...)
„Die DDR war Nepotismus.“ (Das wollten die Grünen nicht unterschreiben, weil sie vom Wahrheitsgehalt nicht überzeugt waren und die Linken nicht, weil sie das Wort nicht kannten.)
„Die SPD zahlt unsere Brötchen.“ (Wollte die SPD nicht unterschreiben, sie hatten nicht genügend Geld dabei. Die Rechnung blieb unbeglichen.)
Und schließlich legte jemand einen Zettel auf den Tisch auf dem stand „Die Soziale Marktwirtschaft ist nur Sozialismus mit Westgeld“. Da standen alle auf und die Verhandlung war vorbei.
Objektiv brauchen diese Leute meinen Rat. Aber vielleicht sind sie ohne glücklicher.

16. Mai 2010

Mein Lieblingsitaliener ist ein historisches Labor. Eine sagenhaft hässliche Inneneinrichtung und grüne Auslegeware erinnern an die Zeiten, als deutsche Restaurantgäste noch keine Ahnung hatten, wie es in Italien wirklich aussieht. Die Preise stammen noch aus dem – längst in Trümmern liegenden – Berlin der Jahrtausendwende (die dritte meine ich). Da es ziemlich unwahrscheinlich ist, dass der Gewinn auch nur die fünf charmanten Kellner ernähren kann, liegt es nahe, dass man sich in  den Hinterstuben des Restaurants nicht nur aufs Pizza Backen versteht.
Als weiland mein Lieblingsitaliener seine Preise festlegte, war die heutige Bevölkerung des Prenzlbergs noch der Meinung, die Gesellschaft am effektivsten als Absolvent einer englischsprachigen Managementschule, als exaltierter Produktdesigner oder Insider im „Medienbereich“ belästigen zu können. Zwischenzeitlich überlässt man diese Aufgabe – erfolgreich – seinem Nachwuchs.
Das Kind unserer Tischnachbarn trägt Baby-Schuhe von Puma und sieht seinem Vater ähnlich. Es ist sehr hässlich. Ich finde das ungerecht, weil es doch jedem Menschen vergönnt sein sollte, wenigstens für eine kurze Spanne seines Lebens ein bisschen niedlich zu sein. Während ich überlegte, wie Adolf Hitler wohl als Kind ausgesehen hatte, sausten plötzlich zwei Duplo-Steine dicht an meinem Kopf vorbei und für einen kurzen Moment, befürchtete ich, meine Assoziation sei durchschaut worden. Peinlich berührt fingerte ich unter meinem Stuhl nach den Duplo-Steinen, um sie dem Vater zurückzureichen, doch der beobachtete mich nur belustigt und sagte dann: „Ach lassen Sie, die sind eh' nur vom Restaurant.“
So beginnen Freundschaften. „Für Ihre wäre ich jetzt natürlich unter den Tisch gekrabbelt“, - hätte ich antworten sollen.
Vater und Mutter schenkten dem Kind nun nicht mehr viel Aufmerksamkeit. Während beide durch das Fenster das graue Berlin im Mai 2010 beäugten, sauste Adolf junior durch das Restaurant, nahm Salzstreuer von Tischen, zerrte an der Hose einer Dame und tauschte seinen ersten Zungenkuss mit einem übermüdeten Bernhardiner. Seine Bemühungen, die Tür zur Hauptstraße zu öffnen, wurden erst durch einen Kellner behindert, der sich sicher nicht häufig dem Wunsch eines Gastes in den Weg stellt.
Erst als das Essen gebracht wurde, hörte ich ein leises „Wo ist der überhaupt?“ vom Nachbartisch. Das Kind wurde aufgefunden und alsdann aufgefordert, seine Nudeln zu essen. „Du wirst morgen zwei Jahre alt, Du bist doch kein Baby mehr. Nimm Messer und Gabel!“ Auf den kurz darauf einsetzenden heftigen Husten des Kindes versetzte die Mutter liebevoll-beiläufig: „Jetzt hörst Du auf zu husten, Frederik!“
Also doch nicht Adolf.
Da sich die Nudel auf den simplen Befehl der Mutter aber nicht aus Frederiks Luftröhre zurückzog, fuhr sie schärfere Geschütze auf. „Du blamierst Mutti schon beim ersten Restaurantbesuch. Wenn Du jetzt nicht aufhörst, lese ich Dir heute Abend nicht aus der „Kritik der reinen Vernunft“ vor.“
Mein Mann bestreitet übrigens, dass dieser Satz gefallen ist.
Als unsere Tischnachbarn schließlich aufstanden und gingen, sahen sie sich verstohlen um. Wahrscheinlich waren sie in Sorgen, ob jemand ihre Haftpflichtversicherung in Anspruch nehmen wollte, oder sie prüften, ob jemandem auffallen würde, wenn sie Frederik nach dieser Blamage einfach daließen. Doch unter meinem strengen Blick entschieden sie, dass Kind wieder mitzunehmen, schließlich wäre es ja auch schade um die sauteuren Adidas-Strampelanzüge und die Baby-Golftasche. Die passen ja sonst keinem.

9. Mai 2010

Es ist ein unerhörter Luxus, zu wissen, warum man Angst hat. Ich fürchte mich zum Beispiel vor Schlangen. Das liegt daran, dass sie glitschig aussehen, keine Beine haben, mit meinem neuen Nachbarn Kevin O., der aus Mühlheim zugezogen ist, weil es irgendwie Probleme mit seiner Wohnung gab, unerkannt in mein Haus gezogen sein könnten, mich in den Hintern beißen oder unerwartet in meinem Bett oder noch schlimmer in meinem Klo auftauchen könnten.
Ich habe auch Angst vor Flugreisen, weil ich nicht einleuchtend finde, dass tonnenschwere Flugzeuge – zusätzlich beschwert um meine Person – am Himmel bleiben, weil ich fürchte, eine Wolke aus Vulkanasche könnte das Flugzeug sandstrahlern und weil ich vermute, dass auch die Passagiere der Airfrance in Rio und der Spanair in Madrid sich – zu Unrecht – auf die statistische Unfallwahrscheinlichkeit und die gute Reputation ihrer europäischen Fluglinien verlassen haben.
Wenn man mir nun vermitteln wollte, dass ich mich zusätzlich auch vor der Spandauer Grundschullehrerin Erika Brändel und den Pollen der westpommerschen Strauchhyazynthe in Acht nehmen sollte, würde ich dies zunächst verweigern. Erst wenn man mir plausibel erklären könnte, dass Erika Brändel regelmäßig montags gegen 7:54 Uhr mit ihrem Auto über die Kreuzung Frankfurter Tor braust – just die Zeit, zu der ich dort auch auftauche – dabei zutiefst deprimiert über ihren Sohn ist, der mir wie zufällig zum Verwechseln ähnlich sieht und gleichzeitig bekannt ist, dass Erika schon viermal beinah Männer über den Haufen gefahren hat, die ihrem Sohn ähnlich sehen – erst dann, würde ich erwägen, mich vor Erika ein wenig zu fürchten.
Aus diesem Grunde weigere ich mich, mich vor der Griechenland und Euro-Krise zu fürchten: ich weiß nämlich nicht, wovor ich Angst haben soll. Könnte mein Ouzo teurer werden oder wird mir der Bankautomat künftig nur noch Drachmen auszahlen? Kann ich mir die künftig die Sonne am Himmel und einen Apfel vom Baum nicht mehr leisten? Muss ich meinen Fernseher verkaufen oder werde ich zu Frondiensten in griechischen Steinbrüchen gezwungen. Kann ich Angela Merkel als meine Kanzlerin nicht mehr bezahlen und geht mir eine Stunde des Tages als Solidaritätsabgabe verloren?
Nein es tut mir Leid! Ich weiß, dass es anständig wäre, mich davor zu fürchten, meine Ersparnisse zu verlieren – aber ich habe gar keine Ersparnisse. Ich weiß auch, dass der öffentliche Budenzauber von Politik und Medien mit viel Aufwand und Liebe fürs Detail eine erregende Gefahr nach der anderen präsentiert, die mich alle in Angst und Schrecken versetzen soll, isländische Vulkane, Videos vom Osama bin Laden, Banken-Krisen und Staats-Pleiten.
Ich danke herzlich, doch ich lehne es ab! Je mehr Angst in mir wohnt, desto weniger bin ich Mensch.

2. Mai

Ein paar Reflexionen zum 2. Mai:
In der Theorie halte ich den durchschnittlichen Rechtsradikalen auch nur für eine gesellschaftlich desintegrierte Gestalt mit vielen Komplexen, der in der „Kameradschaft“ brauner Gruppen die Zuwendung findet, die er glaubt von Mitmenschen bekommen zu können. Kleidung mit der machtvoll martialischen Aufschrift „Lonesdale“ oder „Thor Steinar“ trägt er nur, weil er die eigene Bedeutung für zu gering erachtet, um „Superheld“ oder „Oberstecher“ daraufzuschreiben.
Aus dieser meiner eher mitfühlenden Sicht der Dinge folgt, dass dem Neonazi zumeist mit Aufgeschlossenheit und Verständnis zu begegnen wäre, um dem rechten Irrweg das Wasser abzugraben.
In der Praxis macht das persönliche Erleben bekennender Neonazis – wie soeben zu deren missglückten Stelldichein am 1. Mai im Prenzlauer Berg - einen intgrierenden Umgang ausgesprochen problematisch. Einige dieser Gestalten hatten sich in eine Straßenbahn verirrt, die ich auch benutzen musste: Kein Hals trennt den schwammigen Körper vom bleichen Kopf. Die Augen liegen tief, die Haare sind – nun ja – abrasiert. Der Duft billigen Rasierwassers mengt sich unter die Erinnerung an kalten Rauch und einen unlängst verkosteten Sechserträger Lidl-Bier. Die Kleidung sitzt schlecht an Körpern, die ohnehin nur mit einen kleinen Zelt oder einem Seidenkimono vorteilhaft darzustellen wären.
In solchen Menschen die zurückgelassenen Mitglieder einer vorauseilenden Gesellschaft der Klugen und Schönen zu erkennen, ist schwierig. Wo der Impuls entstehen sollte, auf den verwirrt um sich blickenden Neonazi zuzugehen, und zu fragen, ob man ihm weiterhelfen könne, findet man es plötzlich attraktiver, endlich mal die Hundesscheisse aus den Rillen seiner Turnschuhe herauszupulen oder ein wenig auf einem Kügelchen Alufolie herumzukauen.
Wo man Mitleid mit einem Menschen haben sollte, der in seinem bisherigen Leben gewiss nur Ablehnung erfahren hat, kommt man auf den Gedanken, dass diese Ablehnung logisch und verständlich ist.
Tja, Schade. Mit dieser meiner Einstellung ist leider nicht damit zu rechnen, dem Phänomen des Rechtsradikalismus bald beikommen zu können.
Zum 1. Mai gehört natürlich auch das klassische Aufeinandertreffen von Autonomen und Polizisten zum lustigen Pflastersteintennis am Landwehrkanal. Ich habe nur die vor lauter Vorfreude erregten Gesichter am Kottbusser Tor gesehen und gedankenverloren gegrübelt, ob einer von Ihnen eines Tages Bundesaußenmister sein wird – was so unwahrscheinlich nicht ist, da dem Vernehmen nach in den letzten Jahren zu den Maikrawallen auch vermehrt Bürgersöhnchen aus Hannover und Hamburg-Blankenese anreisten, um gekleidet in Esprit-Jacke und Strumpfmaske, mal Berliner „Bullen klatschen“ zu gehen.
Am späteren Abend habe ich dann noch darüber gegrübelt, wann der erste Papst den Namen Kevin tragen wird, und bin dann – um den Tag nicht mit zu vielen tiefschürfenden Gedanken aufzuladen – eingeschlafen.  

25. April 2010

 Ruckartige Bewegungen der rechten Hand nach oben werden in Deutschland seit 65 Jahren nach Möglichkeit vermieden. Und wenn es sich doch einmal nicht vermeiden lässt, sieht man wenigstens zu, die Finger dabei nicht aneinander zu drücken oder sie gar nicht erst auszustrecken.

Patzer auf diesem Gebiet der politischen Gentillesse werden in der Regel höflich ignoriert, so als wäre dem Gegenüber ein Maiskorn aus dem Mund gefallen oder als habe er einen dicken Pickel auf der Nase.

Eine besondere Herausforderung auf diesem Gebiet sind die Gleittüren in den ICEs der Deutschen Bahn. Der erfahrene Bahnfahrer weiß, dass diese auf die Anwesenheit von Personen gelegentlich unempfindlich reagieren und gar nicht daran denken, sich geräuschlos zu öffnen. In dieser Situation ist es nun tunlich, mit einer Hand dicht an den über der Tür angebrachten Sensor zu greifen um seiner mangelnden Sensibilität auf die Sprünge zu helfen.

Der geschichtsbewusste Mensch ist sich der Gefahr in der er schwebt bewusst, hebt nach Möglichkeit die linke Hand, spreizt die Finger und führt eine etwas tuffige Geste – wie zur Schlangenbeschwörung – vor dem Gerät aus und schreitet alsdann souverän durch die sich öffnende Tür.

Auf meiner Bahnfahrt nach Korsika erlebte ich eine Dame, die mit ihren Gedanken wohl nicht beständig bei historisch verantwortlicher Gestik war. Vor der unwilligen Tür riss sie die Rechte zackig nach oben, und unter den Eindruck der durchgedrückten Hand öffnete sich die Türe bereitwillig.

Ich hatte diesem Schauspiel gegenüber gesessen und sagte zu der Dame, als sie an mir vorüberging: „Na, der deutsche Gruß öffnet einem ja noch manche Tür.“

Sie wurde über und über rot und ich sonnte mich in meiner moralischen Überlegenheit und meinem gesunden historischen Bewusstsein.

Vorgestern dann, auf der Rückfahrt von Korsika, machten wir Halt in Pisa. Meine moralische Überlegenheit brach mit einem Schlag in sich zusammen. Hitlergrüße wohin man auch sah. Ohne Bedenken erhoben Männer, Frauen und Kinder jeden Alters die gestreckte Rechte. Kurz schloss ich daraus messerscharf wie fehlerhaft, dass Pisa eine neue Hochburg rechtsradikaler Erneuerungsbewegungen geworden ist. Doch der Polizist, den ich gegen diesen Auswuchs um Einschreiten ersuchte, erläuterte mir, dass es sich um Turisten handelte, die zur Vorbereitung eines Fotos, das jeder Pisa-Turist brauche – nämlich die Illusion, er stütze mit der Hand den schiefen Turm – die inkriminierte Geste ausführten.

Ich habe die Nase gerümpft und bin nach Hause gefahren: diese Welt ist doch einfach unhistorisch!

 

11. April 2010

Urlaub. In den nächsten zwei Wochen werde ich darüber nachdenken, ob eine Gesellschaft wie die unsere nicht noch viel mehr Metalldetektoren verdient und ob ich mit deren Herstellung nicht mein Geld verdienen sollte. Ich werde grübeln ob der Unfalltod von Lech Kaszcinski vor drei Jahren in der Kategorie „gute Nachrichten“ aufgetaucht wäre. Ich will auch – am Rande – wissen, ob eine Gesellschaft wirklich reicher werden kann, durch das Austauschen von Leistungen, die von den Tauschpartnern doch eigentlich als gleichwertig erachtet werden. Wenn Zeit bleibt, versuche ich die Unendlichkeit des Universums zu entschlüsseln, und ob der 1.FC Köln irgendwas mit der Erbsünde zu tun hat.
Wenn meine Überlegungen ertragreich sind, melde ich mich in zwei Wochen mit denErgebnissen wieder. Sonst mit anderen Themen.

4. April 2010


Helmut Kohl ist 80 geworden. Er hat aus gesundheitlichen Gründen auf eine große Feier verzichtet und nur wenige Freunde in sein Haus in Oggersheim eingeladen.
Die junge Union ist trotzdem und uneingeladen vor dem Haus des Altkanzlers erschienen. Es soll an dieser Stelle dahinstehen, ob das daran liegt, dass deren Mitglieder ohnehin daran gewöhnt sind, zu Feiern nicht eingeladen zu werden und daher die einzige Chance auf eine Teilnahme im uneingeladenen Erscheinen besteht.
Den Berichten nach hat die Junge Union vor dem Hause Kohl das Deutschlandlied angestimmt und schwarz-rot-goldene Ballons in den Himmel steigen lassen. Unbestätigt blieb dagegen, dass drei in den deutschen Farben angestrichene Friedenstauben wegen des frischen Lackes in den Federn nicht starten konnten.
Nun ist für einen empfindsamen Geist die Vorstellung des Deutschlandliedes als Geburtstagsüberraschung, gesungen von der jungen Union auf offener Straße vor dem eigenen Haus ähnlich ansprechend wie ein Kübel frisch Erbrochenes.
So könnte man nun annehmen, dass Angela Merkel, der alte Spitzbube, Helmut Kohl mit dieser Geste nichts allzu positives angedeihen lassen wollte.
Doch soll sich der Altkanzler über die Darbietung gefreut haben. Und dies trotz der Anwesenheit des JU-Vorsitzenden Phillip Missfelder, der sich seit dem Erfolg des zu Guttenberg angeblich von Freunden auch gern französisierend „de Missfelder“ nennen lässt.
Missfelder ist die geschmacklose Ergänzung jeder unerfreulichen Veranstaltung – um im Bilde zu bleiben gewissermaßen die Erdbeere auf der Schüssel Erbrochenes.
Möglich ist natürlich, dass Missfelder Kohl in Verbereitung der spontanen Aktion versichert hatte, dass er ihm jederzeit lebensverlängernde Maßnahmen auf Kosten der Solidargemeinschaft gönnen würde.
In meiner verbliebenen Achtung für Helmut Kohl – der mir aufrichtig als großer Europäer in Erinnerung ist – wünsche ich mir jedoch heimlich, dass er statt, wie es berichtet wurde, zu Tränen gerührt mitgesungen haben soll, in Wahrheit Tränen über die Schlichtheit der Darbietung vergoss und vergeblich „Schnauze, Schnauze, verpisst Euch, ihr Pickeljonnies“ gemurmelt habe.
Aber ach, es ist ja sein Geburtstag, nicht meiner! Wenn er sich gefreut hat und Phillip und Angela auch, sollte ich nicht missgünstig sein.

Frohe Ostern!

28. März 2010

Die Grotesken dieser Woche müssen zurückstehen, weil ich einfach nicht dazu gekommen bin einen lustigen Text zu schreiben.
Es ist lustig, dass Angela Merkel befürchtet, türkische Gymnasien in Deutschland könnten den Vorwand liefern, dass türkische Kinder kein Deutsch lernen. Ja, ja, diese Gymnasiasten und das Deutsch...
Es ist auch lustig, dass die Schreiber von Spiegel, Stern und Süddeutscher den Stern Berlusconis nun aber mal endgültig im Sinken sahen – und eines Besseren belehrt wurden. Nicht zum ersten Mal. Aber wer täglich Schnee vorhersagt wird schon drei, vier mal im Jahr Recht haben.
Lustig waren auch Fernsehbilder aus den 70er Jahren, zum Geburtstag von Helmuth Kohl: der warf 1976 Helmuth Schmidt eine unverantwortliche Verschuldung vor, „zu Lasten der Generation unserer Kinder.“ Wenn wir heute wieder die Staatsverschuldung von 1976 hätten, wäre das Anlass für sieben neue gesetzliche Feiertage!
Ja, eine sehr lustige Woche, aber leider hatte ich – wie gesagt – keine Zeit.

21. März 2010

Im idealtypischen Denkmodel funktioniert Demokratie wie der Wettbewerb in der Wirtschaft: eine Gesellschaft wählt unter verschiedenen Politikangeboten aus und hat alle paar Jahre die Möglichkeit, das gewählte Angebot wieder zu unterstützen oder auch ein anderes mutmaßlich besseres Angebot neu auszuwählen. In diesem Sinne sind also regierende sowie nicht regierende Politiker permanent motiviert, ihre Angebote für die Gesellschaft zu verbessern und zu optimieren – stets zum Lobe einer sich beständig steigernden politischen Wohlfahrt.
Wenn man dies ernst nimmt, muss eigentlich keine politische Partei traurig sein, wenn sie abgewählt wird. Im Grunde bedeutet ihre Abwahl nur, dass eine andere politische Kraft das Volk mit einer noch besseren Vision von sich hat überzeugen können.
Soweit die Theorie.
Tatsächlich erinnert die Motivation bei der Wahl aber weniger an die lustvolle Auswahl des leckersten Stückes Kuchen in der Bäckerei sondern an die nachhaltigen Prinzipien der Schädlingsbekämpfung: Gegen Mäuse im Keller helfen Ratten. Wenn die Ratten Überhand nehmen, können Schlangen das Problem lösen, wenn die Schlangen lästig werden, lässt man Krokodile in den Keller. Und wenn man dann keine Idee mehr hat, wie man die Krokodile los wird, muss man halt damit leben, dass man im Keller ab und zu in den Hintern gebissen wird.
Auf die Politik übertragen bedeutet das, dass Kohl die Ratte war, die die Maus Schmidt zur Strecke bringen konnte, Schröder und Fischer die Schlangen waren, die die Ratte Kohl fressen konnten und Angela Merkel das Krokodil, das Schröders SPD abnagen sollte.
Aber das Wahlvolk musste feststellen, dass Krokodile manchmal vier Jahre warten, bis sie die Schlange fressen – die Politwelt nennt das „Große Koalition“.
Doch das Wahlvolk ist nicht geduldig, und weil es unsicher war, ob das Krokodil überhaupt je Appetit auf Schlangen bekommen würde, entschied es sich für ein antibiotisches Pestizid, das Schädling und Günstling gleichermaßen in die Knie zwingt: Westerwelles FDP.
Und wie das nun so ist mit den Pestiziden: man hat sie im Boden, im Essen, im Körper, man will sie eigentlich auch nicht mehr und weiß nun erneut nicht, was tun. Man sucht nach einem noch grauenvolleren Ausweg und am Horizont des Jahres 2013 dämmert er schon schwarz-grün.
Er wird kommen, der besserwisserische Öko-Spießer und er wird uns bringen was heute noch niemand glauben kann: Sehnsucht nach Westerwelle!

14. März 2010

Zoé heißt das Mädchen. So-eh. Sie ist vielleicht fünf und das Kind meiner Tischnachbarn in meinem Lieblingscafé. Zoé buhlt um meine Aufmerksamkeit seit ich mich vor fünf Minuten gesetzt habe. Ihre Eltern ignorieren sie oder sind einfach nicht in der Lage sich zu bewegen weil ihre Röhrenhosen sie sonst schmerzhaft in die Genitalien zwicken würden.
Zoé wirft einen Stapel Bausteine um, der auf meinem Fuß landet und sagt: „Ich kann Kantonesisch.“
Ich lächle freundlich und sage: „Das ist mir egal.“
Zoé ist von dieser Antwort nicht gekränkt, wohl aber ihre Mutter, die sich nun doch vorbeugt und sagt: „Na, hören Sie mal! Das ist doch ein Kind.“
Ich lächle wieder freundlich und sage: „Und ein selbstbewusstes noch dazu. Zu den Erfolgen Ihrer Erziehung möchte ich gratulieren.“
Die Mutter macht ein böses Gesicht und schaut wieder weg.
Zoé lacht mich immer noch an und sagt: „Ich kann wirklich Kantonesisch.“
Jetzt seufze ich und sage: „Ich bekomme mehr als 3000 Euro im Monat dafür, dass ich nutzlos in der Gegend rumsitze und anderen auf die Nerven gehe. Wieviel kriegst Du dafür?“
„Zoé!“, ruft die Mutter. „Du sprichst jetzt nicht mehr mit dem Mann!“
Zoé schmollt und trollt sich.
Zwei Minuten später fällt ein weiterer speckiger Baustein in die Sahne auf meinem Apfelkuchen. „Sahne hat viel Fett,“ weiß Zoé, die schon wieder vor mir steht.
„Hat deine Mutti auch“, sage ich. „Ich schmeiße trotzdem kein Bauklötzchen nach ihr.“
Ich spreche die Mutter an. „Ist das Ihr Kind?“ Sie nickt. „Bezaubernd!“, lobe ich.
Ich bitte den Kellner, meinen Kuchen auf die Rechnung des Nachbartisches zu setzen.
Als ich kurz darauf aufstehe, sage ich zu Zoé: „Grüß Deng Xiaoping von mir.“
„Der ist doch tot“, lacht Zoé.
„Kein Grund zu lachen“, sage ich.
„Ich habe diesen Kuchen nicht gegessen und ich werde ihn auch nicht bezahlen“, ruft die Mutter.
„Aber sie haben zugelassen, dass Bauschutt drauffällt,“ antworte ich. „Vielleicht sollten Sie den Kantonesischkurs um einen Anstandskurs ergänzen.“
„Meine Tochter braucht keinen Anstandskurs!“
„Den gibt’s auch für Eltern,“ sage ich und trete hinaus in den Schnee eines sehr heimisch gewordenen Winters.

7. März 2010

Heute gibt es den zweiten Teil des Schweinegedichtes.

Das Schwein weiß: „Viel Zeit hab ich nicht! Sonst finden sie ihr Leibgericht.“
Und eh wir uns nicht recht versah'n, stieg es in eine Straßenbahn.
Zwischen Beinen, Hosen, Röcken, Kinderwagen, Spazierstöcken,
riecht es mal fürchterlich mal fein, so soll es sein für unser Schwein.
So hat es bei sich schon gedacht: „Hier bleibe ich die ganze Nacht.“,
als zwei breite Männer mit Visagen ähnlich der des Schlachters fragen:
„Wem gehört das Schweinetier? Auch Rosa fährt nicht schwarz, gezahlt wird hier!“
Und weil das Schwein nichts zeigen kann, drohn die zwei Kerle ihm Prügel an.
Wieder öffnet sich eine Tür, und wieder rennt das Schweinetier.
Hinaus und über Straßen, Plätze bis es genug hat von der Hetze.
Unter dem Feuilleton der FAZ
kuschelt's sich in einen Sandkasten am Kollwitzplatz.
Doch kaum sind seine Augen zu, stört ein Kinderstimmchen seine Ruh.
„Da Mama sieh, ein Freilandschwein. Das kann doch unser Essen sein!“
Und wieder flüchtet unser Schwein, auf Ruhe wär' es so erpicht
und denkt: „So schlecht war's doch im Schlachthaus nicht!“

Der dritte Teil wird folgen.

28. Februar 2010

Für das persönliche Fortkommen sind die meisten Menschen darauf angewiesen, guten Anklang bei anderen zu finden. So ist es bei der Partnerwahl in der Regel nicht ausreichend, sich selbst für liebenswert zu halten. Auch für den beruflichen Aufstieg ist vor allem die Fremdwahrnehmung als kompetent und geeignet entscheidend.
Ärgerlich ist in diesem Zusammenhang natürlich, wenn die Adressaten gar nicht mitbekommen, dass man liebenswert, kompetent oder geeignet ist. Daher kann es gelegentlich vorkommen, dass ein kleines Lob in eigener Sache angebracht erscheint, gewissermaßen
als Serviceleistung dem Anderen gegenüber, der sich dann der Mühe einer eigenen Beurteilung gar nicht unterziehen muss.
Je nach der Empfindlichkeit des Gegenübers sind unterschiedliche Stufen der Subtilität des Eigenlobes zu verwenden - ein etwas kniffliger Prozess, der Fingerspitzegefühl erfordert.
Im Berufsleben ist ein sehr subtiler Hinweis auf das eigene Engagement zum Beispiel eine relativ unwichtige Email, die man erst gegen 22 Uhr aus dem Büro an einen großen Adressatenkreis weiterleitet.
Eine mittlere Subtilität weist eine Bemerkung aus wie "Gestern beim Rausgehen traf ich noch Herrn X, und der sagte dann "Wieder so spät geworden, dann muss der Sport heute ausfallen"!"
Gar nicht mehr subtil - und mehr für den Gegenüber geeignet, der einen Schlag mit den Holzhammer nicht spürt - ist hingegen die Einlassung "Mann, der Herr Y früher hier im Büro! Der hat den ganzen Tag geknüppelt und rangeklotzt - der war wie ich!"
All dies so erlebt und gehört bei meinem vierwöchigen Aufenthalt in einer obersten Landesbehörde. Ich freu mich wieder auf mein kleines Amt!


21. Februar 2010

Wenn ein Mensch aufhört, sich selbst für etwas besonderes zu halten, dann ist das einer der bittersten Momente, die er erleben kann.
Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber letzte Woche verboten, die Menschen durch Anwendung von Pauschalen zu verwalten, die der Gesetzgeber nicht einmal selber begründen kann.
Und das wiederum war der Anlass für die gehaltvolle noch nie da gewesene Debatte, die wir derzeit erleben. Zu Wester-Willi ist eigentlich alles gesagt, aber weil seine Methode so perfide ist, muss sie noch einmal kurz nachgezeichnet werden: Wester-Willi stellte eine These auf, deren Inhalt kontrovers aber noch von der Meinungsfreiheit gedeckt ist. Die Stammtische würden den Rest erledigen, darauf konnte sich Westerwelle spätestens mit seinem Hinweis auf die „schweigende Mehrheit“, für die er spreche, verlassen.
Und dann spricht der Stammtisch: Harz-IV-Empfänger sind faul, leben im Wohlstand, stinken, sind unhöflich, nehmen Platz in der U-Bahn weg, haben das römische Reich zu Fall gebracht und gewinnen auch noch den Lotto-Jackpot.
Roland Koch hat dieses Muster schon zweimal genutzt: das erste Mal ist er damit Ministerpräsident geworden und Hessen gilt seither nicht mehr gerade als das Länd-sche der Dichter und Denker. Das zweite Mal hätte es ihn fast seinen Job gekostet und spätestens da hat er gelernt: die Menschen sind eben lange nicht so blöd, wie er gehofft hatte.
Weh Dir, Wester-Willi!!

Wenn man sich erinnert, welchen Tenor die Ablehnung von Harz-IV-Empfängern hat und sie vergleicht mit dem Tenor der Ablehnung, die Ausländer gern erfahren, so stellt man fest, dass die einen „faul sind, und nicht arbeiten“ und die anderen „uns die Arbeitsplätze wegnehmen“.
Die Analyse dieses Meinungspaares würde pragmatischerweise verlangen, dass die Ausländer aufhören zu arbeiten und die Harz-IV-Empfänger deren Arbeit übernehmen. Vorausschauend muss aber bezweifelt werden, dass diese Maßnahme den Stammtisch dauerhaft zufrieden stellen würde.

„Der Ausländer“ nähert sich dem Herzen des Michel ja vor allem dann, wenn er im – erschlichenen – Gewande einer deutschen Staatsangehörigkeit sportliche Großtaten vollbringt und Tore schießt oder Eiskunstläufe gewinnt.
Eventuell könnte die Hinwendung des Deutschen zu „unseren“ Sporterfolgen auch eine Integrationsmethode mit Hilfebezieher darstellen. So könnte der Rennrodler Manni B. nachdem er bei den soeben vorbeirieselnden Olympischen Winterspielen eine Goldmedaille gewonnen hat, bei der Pressekonferenz unter Tränen der Rührung gestehen, dass er Harz-IV bezieht und nur dank dieser staatlichen Förderung in der Lage gewesen sei, die sportliche Höchstleistung vorzubereiten und dass er hoffe, dass seine Siegprämie nicht angerechnet würde.
Dann würden unsere Herzen gemeinsam mit den Eisschollen auf den Bürgersteigen Berlin schmelzen und wir würden mit den Tränen kämpfen und „unsere tapferen Harz-IV-Jungs“ loben und allen Empfängern auf die Schultern klopfen und Ihnen sagen, dass wir an sie glauben und dass sie nur weiter machen sollten.

Und wir würden wissen, dass Westerwelle über viele wichtige Belange unserer Gesellschaft nicht Bescheid weiß, vor allem nicht über das wichtigste: den Sport!

14. Februar 2010


Da ich diese Woche nicht viel gelacht habe – außer als ich meine beiden Kolleginnen dazu gebracht habe, im Büro Mandarinen auf ihren Köpfen zu balacieren weil das für ein gesundes Körperbewusstsein angeblich fantastisch ist – starte ich heute eine in loser folge fortzusetzende Gedichtreihe über ein kleines Schwein:

Teil 1:
In einem Schlachthof groß und grau,
stirbt heut ein Eber, eine Sau,
zwei Schafe und sechs stramme Rinder,
und weil sie noch zart sind, deren Kinder.
Doch war es einem kleinen Schwein gegeben,
dass es sehr hing an seinem Leben.
Und als es hieß :“Du sollst der nächste sein!“,
biss es den Schlächter fest ins Bein.
Er schrie, es quieckt, biss noch mal zu.
Er fluchte, wankte, Blut auf dem Schuh.
Zwischen zig Beinen sah das Schwein
durch eine offene Tür den Sonnenschein.
Die Hoffnung durch den schmalen Ritz
macht unser Schwein zum Schweineblitz.
Da schließt die Tür mit Donerhall -
sie suchen Schweinchen überall.
„Ihr müsst heut was anderes schmausen!“,
denkt das Schwein hämisch – es ist draußen.

7. Februar 2010

In einer Schulungsveranstaltung für Vorgesetzte – ja, ein solcher bin ich – habe ich letzte Woche die Dozentin Dr. Dörthe Gall-Rupprecht erlebt. „Wenn der Tag da ist, an dem Sie Ihren Leuten Zeugnisse geben müssen, dürfen Sie nicht ohne Material dastehen. Ich rate Ihnen: machen Sie sich wann immer dafür Anlass besteht, Notizen! Meine Leute wissen, dass ich das tue, und sie können damit auch leben.“
Ich habe mir dann versucht zu erahnen, wie groß die Freude der Mitarbeiter von Dr. Gall-Rupprecht ist, wenn sie ihre Vorgesetzte auf dem Flur treffen – und dann habe ich im Vorgriff auf die Ereignisse, die kommen mögen, mir meine eigenen ersten Notizen über das Leistungsverhalten meiner Mitarbeiter vorgestellt:
1. März 2010: Frau Hühnerklein grüßt mich nur mit der Grußpartikel „Morgen“ statt des üblichen „Guten Morgen“
Auch 1. März 2010: Herr Schmidtke verwendet noch um 11:30 Uhr den Gruß „Guten Morgen“ - im Auge behalten, ob Herr Schmidtke heimlich später zur Arbeit kommt
2. März 2010: Frau Hühnerklein beantragt einen Tag frei, weil sie zum Scheidungstermin am Amtsgericht erscheinen muss. Im Auge behalten, ob sie ihre privaten Sorgen nicht auf die Arbeit überträgt. Und: Personalakte ändern: Frau Hühnerklein heißt ab dem 10. März nur noch Klein.
2. März 2010: Frau Moll hat heute kein Deodorant aufgetragen.
3. März 2010: Frau Moll macht sich verdient, indem sie bei einem Wasserrohrbruch in Büro 2.12 über 150 Minuten mit Ihrem Zeigefinger des Leck verschließt und so eine Überflutung des zweiten Stockwerkes verhindert. Anschließend mit meiner Zustimmung Krankmeldung wegen drohender Erkältung.
5. März 2010: Herr Schmittke beendet seine Recherchearbeit hinsichtlich der verschwundenen Akte 37/203/23111 erfolgreich durch Auffinden derselben unter Archivregal D4. Übernimmt unmittelbar im Anschluss die Sonderaufgabe, eine neue Fußstütze für Archivregal D4 aufzutreiben.
8. März 2010: Habe auf dem Flur einen Mann mit langem weißen Bart gesehen. Bin ziemlich sicher, dass es Herr Schmittke war, der sich verkleidet hatte, weil er nicht mit mir reden wollte. Habe mich dann aber nicht getraut ihm den Bart einfach runter zu reißen...
12. März 2010: Frau Klein feiert mit den Kollegen 11 Monate ohne Dienstaufsichtsbeschwerde. Die vorgezogene Feier war nach Auskunft von Herrn Schmittke tunlich geworden, weil nach einen gestrigen Gespräch von Frau Klein mit einem Steuerberater wohl nicht mehr mit einem ganzen Jahr frei von Dienstaufsichtsbeschwerden zu rechnen ist.
15. März 2010: Habe auf dem Klo belauscht, wie Herr Schmittke zu Herrn Albertz sagte, er habe bei sechs Erklärungen die Anlage AUS nicht geprüft. Bin unsicher, ob ich diese Information verwerten darf, weil ich sie mir unbemerkt erlauscht habe. Werde zwecks Prüfung der Frage die vorgesetzte Behörde einschalten.

Frau Dr. Gall-Ruprecht hat zwar in zwei Stunden Vortrag nicht einmal gelacht, aber zum Schluss hat sie gesagt: „Es macht auch Spaß, Vorgesetzte zu sein!“

31. Januar 2010

Ich bin krank. Deshalb ist mir überhaupt nichts lustiges eingefallen. Aber ich hole das nach - fest versprochen!

24. Januar 2010

Roland Koch ist ein intelligenter Mann. Also sollte man hinhören, wenn er – erneut – vorschlägt, die Empfänger von Hilfe zum Lebensunterhalt zu „geringwertiger“ gemeinnütziger Arbeit heranzuziehen.

Nun hat der Gedanke, dass Tätigkeiten, die keinerlei weitere Qualifikation erfordern und derzeit von niemandem vernünftig ausgeführt werden, mit Leuten zu besetzen, die dafür Zeit und auch eine moralische Verpflichtung haben, natürlich seinen Charme. Doch führt schon dessen einfachste Verwirklichung – nämlich die Unions-Abgeordneten in Bundes- und Länderparlamenten durch Harz-IV-Empfänger zu ersetzen – zu Schwierigkeiten. Denn was sollte man in diesem Falle mit verdienstvollen Parlamentariern wie Johannes Singhammer und Norbert Geis anfangen? Schon hier erkennt man das Dilemma, dem auch das Instrument  der 1-Euro-Jobs ungeschützt ausgesetzt ist: Die Vorgabe, dass nur solche Arbeit für (fast) unbezahlte Kostgänger staatlicher Leistungen geöffnet wird, die sonst niemand macht, ist eine Prophezeiung, die sich im Moment ihrer Äußerung erfüllt. Zur Verdeutlichung: Die vierköpfige Theatertruppe, die in der Vorweihnachtszeit zum Stundenlohn von 10 Euro in Berliner Altenheimen auftrat, musste diese Tätigkeit im gleichen Moment aufgeben, als das Jobcenter Berlin-Mitte vier Harz-4 Empfänger mit der gleichen Aufgabe betraute – zum Stundenlohn von 1 Euro!

Nehmen wir nun also seufzend Abstand von Roland Kochs Idee – deren ideeller Hintergrund durchaus Raum gelassen hätte, auch Vorstand und Belegschaft diverser geretteter Banken in Großküchen und Putzkolonnen einzusetzen.

Roland Koch ist – wie erwähnt – intelligent. Dass seine Idee nicht funktioniert, weiß er selbst.

Roland Koch hat das Problem erkannt!

Die maßgeblichen Funktionäre seiner Partei neiden Harz-IV Empfängern deren 350 Euro nicht, ekeln sich nicht von Schwulen, sehen im Krieg nichts grundsätzlich Gutes und warten auch nicht ungeduldig darauf, dass „die Ausländer“ endlich wieder „nach Hause“ gehen.

Die Wähler der Partei aber schon!

Die Kraft des Intellekts und die Kraft der Moral – sie mögen sich nicht und finden selten zueinander.

Man mag dem Schicksal mangelnden Perfektionismus vorwerfen, dass es als Rächer der Geschichte statt der Reiter der Apokalypse lediglich Andrea Apokalypsilanti und ihre hessische SPD geschickt hat. Diese spielten in Hessen ein Jahr lang Stan Laurel und Oliver Hardy mit dem langen Brett auf der Schulter anstatt Roland Koch letztgültig in das Fegefeuer eines langen klärenden Gespräches mit Niccoló Macchiavelli zu zerren.

17. Januar 2010

Wilhelm Gürzenich ist seit einigen Jahren Postbeamter im Ruhestand. In einem Vorort von Bergisch Gladbach wohnt Wilhelm in seinem Haus hinter einer Tuja-Hecke und einem in jedem Frühjahr frisch braun gestrichenen Jägerzaum. Im Garten plätschert ein kleiner Brunnen im Stil des Klassizismus der späten 60er Jahre, stets beobachtet von zwei oder drei klassischen Büsten, welche die Künste der klassischen Antike sensibel nachvollziehen.
Früher hatte Wilhelm eine Hündin, einen Boxer, dessen bürgerlicher Name Petra im Widerstreit stand mit seinem wenig disziplinierten Auftreten in der Öffentlichkeit. Wilhelm pflegte seine Petra liebevoll, fast meinte man, sie sei sein eigenes Kind, weil sie ein eigenes Zimmer hatte, mit am Esstisch speisen durfte und in ihrem Gesicht eine eindeutige familiäre Ähnlichkeit zu erkennen war.
Doch Wilhelm war nicht gut zu Fuß, weil er wann immer sich etwa ein kleiner Spaziergang angeboten hätte, reichhaltige Mahlzeiten vorzog, unabhängig davon, ob die Stunde des Tages hierfür Anlass bot oder nicht. Und so legte er mit den Jahren stetig an Leibesfülle zu, stieg kaum mehr die Stufen seiner Veranda in der Garten herab und Petra starb eines Tages nach einen kurzen inhaltsarmen Hundleben.
Wenn Wilhelm nicht aß, dann bereitete ihm die Kunst einige Freude. Er hatte in frühen Tagen bereits Bleistiftzeichnungen von Sonnenaufgängen und Alpenpanoramen angefertigt, die ihm im Kreise seiner Bekannte nicht geringe Bewunderung eingebracht hatten. Später dann hatte Wilhelm immer häufiger auch zum Ölpinsel gegriffen und schließlich arbeitete er ausschließlich nach Fotographien Ölportraits von ihm selbst ausgewählter Persönlichkeiten aus. So schenkte er vor Jahren dem Ortsverein einer Partei das Portrait eines früheren Bundeskanzlers, worüber man sich in der Partei so erfreut zeigte, dass man damit einen noch selten benutzten Sitzungssaal der Parteizentrale schmückte, Gelegenheit fand, diesen Saal endlich mit etwas Schönem zu dekorieren und zur künftigen häufigeren Nutzung zu empfehlen. Auch ein Bischof der katholischen Kirche wurde auf diese Weise in Öl gebannt und einer großen Pfarrkirche im Bergisch Gladbach geschenkt, doch leider stürzte das Werk schon wenige Tage nach der feierlichen Übergabe bei Reinigungsarbeiten in einen Eimer mit Essiglauge und wurde hierdurch unwiderbringlich zerstört. Der tief betroffene Pastor lehnte Wilhelms Vorschlag, eines neues Portrait des Bischofs anzufertigen, mit den Worten ab, dies sei ein großherziges Angebot, doch sei es mit großer Kunst wie mit großen Menschen, sie seien nun einmal nicht durch ein auch noch so treffliches Duplikat zu ersetzen.
Nun lud Wilhelm dieser Tage wieder zur Vorstellung eines neuen Bildes in seinen Räumen zur Vernisage ein. Ich war als Begleiter der Christiane Freifrau von Ahlenburg eingeladen, letzter Spross eines niederen Landadels, gesegnet mit besten Beziehungen in die Gesellschaft von Bergisch Gladbach und einer Zunge, die so spitz ist, dass man mit Ihrer Hilfe ohne Probleme einen Holzsplitter aus einem Finger operieren könnte.
Wilhelm ist kein Mann großer Worte oder auch nur vollständiger Sätze, doch ließ er es sich nicht nehmen, die Einführung zu seinem Bilde selbst vorzutragen.
Er formulierte, dass er die lokale Zugehörigkeit ehren wolle, das Bewusstsein für Herkunft, gewissermaßen das Nationale im Lokalen. Wertbewusstsein sei zu stärken, auch und gerade durch die Kunst. Und in der Kunst. Verbundenheit und Identität. Sportlichkeit als Summe von Engagement und Fairness. Ja, diese Gleichung könne man aufmachen.
Dann fiel das weiße geraffte Tuch von der Staffelei.
Und während meine Begleiterin strahlend den Pinselstrich lobte und der Technik des Künstlers eine wahrhaftige Einzigartigkeit zuerkannte, starrte ich auf das Gemälde und erkannte die Größe des Momentes sofort - ohne ihr freilich gleich den richtigen Namen geben zu können. Doch nach reiflicher Überlegung ist mir nun klar, was ich sah: Die Geburt der Mutter alles Grotesken: Lukas Podolski in Öl!

10. Januar 2010

Am vergangenen Mittwoch habe ich mir beim Badmintonspiel das rechte Knie nach hinten durchgedrückt. Nach etwa zehn Minuten intensiven und bislang ungekannten Schmerzes wurden mir langsam aber sicher die Vorteile meiner neuen Erfahrung bewusst. Ich bin nun Träger des letzten öffentlich sichtbaren Abzeichens wahrer Männlichkeit, das die Gegenwart uns gelassen hat: die Sportverletzung.

In der Vergangenheit war der unverletzte Mann das Sinnbild höfischer, verweichlichter Weltentrücktheit und ganz sicher kein anstrebenswertes Ideal. Bewundert wurde indes der Krieger, der sich mehr mit Leib als mit Seele den Gefahren des Schlachtfeldes aussetzte, der mit testosteronstrotzenden Erinnerungen an gemeinschaftliche Nahtoderfahrungen, zerschossenen Extremitäten und zerlumptem Gefühlsleben heimkehrte.

Allein seine Wunden brachten dem Krieger die Erhabenheit über Zweifel an seinem Mut, seiner Tapferkeit und Kühnheit, egal ob der Held beim Retten eines goldhaarigen Kindes und eines putzigen Hundewelpen aus einem mit brennendem Schwefel beschossenen Haus verletzt wurde oder ob ihm beim Sitzen auf der Feldlatrine eine Handgranate vom eigenen Gürtel abgefallen war. Fragen nach Listigkeit und Verantwortung standen wohl nicht so sehr im Vordergrund.

Die Heimat ehrte die Versehrten mit Denkmälern und Parks und leistete so mehr als nur Entschädigung für die erlittene Behinderung.

Wer nicht in den Krieg zog, hatte es schon schwerer und es soll Männer jener Zeit gegeben haben, die sich im preiswertesten Bordell am Orte freiwillig die Syphillis zugezogen haben, um wenigstens den Minimalbeweis ihrer Männlichkeit anzutreten.

Die militärische Denkpause zwischen 1945 und 1999 unterzog in Deutschland die Ansichten einem Wandel. Westdeutsche Soldaten hielt man lange vor allem für herumschreiende Waschlappen – denn in keiner anderen Armee der Welt konnte man so sicher sein, keinesfalls in den Krieg zu müssen! Und als Deutsche endlich wieder Krieger sein durften – siehe da – hielt man diese keinesfalls mehr für Helden, sondern für Geographie-Legasteniker, die Afghanistan mit dem Allgäu und Coesfeld mit dem Kosovo verwechselt hatten.

Den neuen Insignien der Männlichkeit hatte die Eindeutigkeit immer gefehlt, der Besitz von Sportwagen und Penthousewohnungen wurde zunehmend angezweifelt, etwa, dass die Finanzierung aus den Erbe der Frau erfolgt sei oder – moderner – aus unmoralischen Vergütungen als Banker.

So blieb und bleibt dem Mann von heute nichts als die eigentliche Substanz seiner selbst. Und dieses Selbst hat sich mangels kriegerischer Herausforderungen im Sport zu beweisen.

Die Verletzung bei diesem Sport ist der ultimaive Beweis von dessen Zweckerfüllung. Hier wird belegt: der Sportler hat das Risiko erkannt oder nicht erkannt – aber in jedem Fall in Kauf genommen. Er hat nachgedacht oder nicht nachgedacht – aber er hat gehandelt. Er wollte den Scherz oder fürchtete ihm – aber er hat ihn ertragen.

Der Sportler – er ist ein Mann!

Es ist sicher ein Wehrmutstropfen, dass meine Verletzung bei einer Sportart ausgelöst wurde, die im Volksmund auch als „Federball“ herabgewürdigt wird und Assoziationen an Holzschläger, Volksparks und wallende Frauenkleider des frühen 20 Jahrhunderts hervorruft.

Mein Ehre wäre sicher noch steigerbar, wenn mir die Verletzung beim Wettlauf mit einem Stier in Pamplona oder beim Freeclimbing an Ayers Rock passiert wäre.

Doch will ich nicht undankbar sein und erfreue mich nun wenigstens noch eine Woche bis zum Abklingen der Verwundung daran, als was ich nun vor den Augen von aller Welt gelten darf: ein echter Kerl!

3. Januar 2010

Das neue Jahr hat mit der Verwirklichung meines ersten guten Vorsatzes begonnen.
Ich habe die Süddeutsche Zeitung gekündigt. Ich entwarf das folgende Kündigungsschreiben:

„… nach mehr als zehn Jahren Abonnenten-Lektüre Ihrer Zeitung möchte ich mit diesem Schreiben mein Abonnement kündigen. Es kommt mir fast vor als könnte sich eine Scheidung so anfühlen – ich habe mich noch nie scheiden lassen, von daher kann ich nur raten – habe ich doch so lange Ihre kompetente und vollständige und oft unterhaltsame Berichterstattung genossen.
Doch die Stellung Ihrer Autoren als Musterknaben ihrer Zunft verleitet deren Beiträge nach meinem Geschmack immer häufiger zu unangebrachter Selbstgerechtigkeit. Heribert Prantls spitze Zunge ist das schneidige Schwert eines brillanten Intellekts, doch schwingt mit den Jahren immer mehr protestantische Freudlosigkeit und auch Verachtung für den Andersdenkenden in seinen – immer lesenswerten – Tiraden und kommt im Gegensatz zu Cato dem Älteren nicht mit nur einem Ceterum Censeo aus.
Noch schwerer erträglich sind Marc Beises stete Untergangsszenarien, die er mit einem Charme vorzutragen weiß. Der Olaf Henkel Ehre gemacht hätte, ganz abgesehen von seiner fast homoerotischen Begeisterung für Neu-Minister zu Guttenberg – den Ausweg aus der großkoalitionären Berliner Graugesichtigkeit.
Zur Schweinegrippe fällt Ihrer Zeitung ein, dass die Reaktion „hierzulande“ immer die gleichen (selbstverständlich hysterischen und inkompetenten) seien.

Kurt Kister muss ich vorwerfen, dass er viel zu wenig von seinem herzerwärmenden Spott für die Aufschneider dieser Welt auf die selben ergießt und seinen klaren Blick für das was hinter den Fassaden der politischen (und publizistischen) Welt steht, zu selten mit uns Lesern teilt.

Ich will Ihnen den gesellschaftlichen Befund nicht anlasten, dass eine Vielzahl von Menschen unser Dasein in Deutschland und Europa als „in schwierigen Zeiten“ und krisenhaft empfindet. Doch haben Sie als Massenmedium sehr wohl die Möglichkeit, auf die Wahrung der Verhältnismäßigkeit zu dringen.
Sollten die Deutschen des beginnenden 21. Jahrhunderts am jüngsten Tag gefragt werden – im Angesicht von ebenfalls anwesenden Pest-, Kriegs- und Hungeropfern der Geschichte und der Gegenwart – was es denn für sie noch hätte sein dürfen, was sie im Leben glücklich und dankbar gemacht hätte und darauf keine Antwort wissen, dann werden sie nach kurzem Zögern sagen: „Das hat uns ja nie jemand gesagt!“

Also wappnen Sie sich für diesen Moment!

Ohne weitere Gefühligkeit kehre ich zum Amtsdeutsch zurück und erkläre die Kündigung meines Abonnements zum nächst möglichen Zeitpunkt.

Trotz allem vorstehenden wird mir Ihr Blatt fehlen und vielleicht finden wir ja eines Tages wieder zu einander.“

So! Und was hatte ich noch für gute Vorsätze?

Ruckartige Bewegungen der rechten Hand nach oben werden in Deutschland seit 65 Jahren nach Möglichkeit vermieden. Und wenn es sich doch einmal nicht vermeiden lässt, sieht man wenigstens zu, die Finger dabei nicht aneinander zu drücken oder sie gar nicht erst auszustrecken.

Patzer auf diesem Gebiet der politischen Gentillesse werden in der Regel höflich ignoriert, so als wäre dem Gegenüber ein Maiskorn aus dem Mund gefallen oder als habe er einen dicken Pickel auf der Nase.

Eine besondere Herausforderung auf diesem Gebiet sind die Gleittüren in den ICEs der Deutschen Bahn. Der erfahrene Bahnfahrer weiß, dass diese auf die Anwesenheit von Personen gelegentlich unempfindlich reagieren und gar nicht daran denken, sich geräuschlos zu öffnen. In dieser Situation ist es nun tunlich, mit einer Hand dicht an den über der Tür angebrachten Sensor zu greifen um seiner mangelnden Sensibilität auf die Sprünge zu helfen.

Der geschichtsbewusste Mensch ist sich der Gefahr in der er schwebt bewusst, hebt nach Möglichkeit die linke Hand, spreizt die Finger und führt eine etwas tuffige Geste – wie zur Schlangenbeschwörung – vor dem Gerät aus und schreitet alsdann souverän durch die sich öffnende Tür.

Auf meiner Bahnfahrt nach Korsika erlebte ich eine Dame, die mit ihren Gedanken wohl nicht beständig bei historisch verantwortlicher Gestik war. Vor der unwilligen Tür riss sie die Rechte zackig nach oben, und unter den Eindruck der durchgedrückten Hand öffnete sich die Türe bereitwillig.

Ich hatte diesem Schauspiel gegenüber gesessen und sagte zu der Dame, als sie an mir vorüberging: „Na, der deutsche Gruß öffnet einem ja noch manche Tür.“

Sie wurde über und über rot und ich sonnte mich in meiner moralischen Überlegenheit und meinem gesunden historischen Bewusstsein.

Vorgestern dann, auf der Rückfahrt von Korsika, machten wir Halt in Pisa. Meine moralische Überlegenheit brach mit einem Schlag in sich zusammen. Hitlergrüße wohin man auch sah. Ohne Bedenken erhoben Männer, Frauen und Kinder jeden Alters die gestreckte Rechte. Kurz schloss ich daraus messerscharf wie fehlerhaft, dass Pisa eine neue Hochburg rechtsradikaler Erneuerungsbewegungen geworden ist. Doch der Polizist, den ich gegen diesen Auswuchs um Einschreiten ersuchte, erläuterte mir, dass es sich um Turisten handelte, die zur Vorbereitung eines Fotos, das jeder Pisa-Turist brauche – nämlich die Illusion, er stütze mit der Hand den schiefen Turm – die inkriminierte Geste ausführten.

Ich habe die Nase gerümpft und bin nach Hause gefahren: diese Welt ist doch einfach unhistorisch!